© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Politik zwischen Ideal und Realität
von Karlheinz Weissmann

Wir leben in einer Zeit, in der sich jedermann oder doch wenigstens jeder Politiker auf die "Realitäten" beruft, in einer Zeit, in der "Realismus" als Tugend gilt. Auch die rot-grüne Bundesregierung möchte bezeichnenderweise nicht wegen ihrer Visionen und Utopien geschätzt werden, sondern wegen ihres Wirklichkeitssinns. Der auffällige Zug ins Pragmatische sorgt für Unauffälligkeit, selbst Hochideologisches kommt als gesunder Menschenverstand verkleidet daher. Das ist um so bemerkenswerter, als die Protagonisten des Kabinetts zu einer Generation gehören, die unter dem Banner des "Idealismus" angetreten war, die Welt zu verändern, in jedem Fall zu verbessern, die glaubte, daß es an ihr liege, wenn schon nicht das Paradies auf Erden zu errichten und das Menschengeschlecht von Unterdrückung, Ausbeutung und Hunger zu befreien, so doch wenigstens die Entwicklung der Gesellschaft entscheidend voranzubringen.

Von diesem Enthusiasmus ist wenig geblieben, nicht nur, weil die Revolutionäre im Wartestand grau geworden sind, sondern weil sich die Situation und mit ihr die Atmosphäre so gründlich gewandelt haben, daß heute niemand mehr begreifen würde, was die Programme von ’68 eigentlich bedeuten sollten. Die Wortwahl wäre vielleicht noch verständlich, aber alles, was dazu gehörte an Mode und Musik und dem, was den Beigeschmack der Zeit ausmacht, ist bestenfalls geeignet, Nostalgie mit dem dazugehörigen Halbverstehen und einen lukrativen "Kult" zu schaffen.

Die Achtundsechziger, die die "Neue Mitte" um sich sammeln, als "Revolutionäre" zu bezeichnen, wie eben geschehen, ist im Grunde irreführend. Sie haben keine Revolution gemacht, sie haben sie nur simuliert. Das ging nicht so sehr auf fehlende Bereitschaft zurück, aber auf fehlende Ernsthaftigkeit und eine Lage, die eine Revolution im klassischen Sinn kaum erlaubte. Ihr "romantischer Rückfall" (Richard Löwenthal) erinnerte die zeitgenössischen Beobachter wohl an Stürmer und Dränger der Vergangenheit, aber die Parallelisierung hatte immer etwas von einem Kurzschluß. Die Situation von 1968 unterschied sich trotz aller Umsturz-Rhetorik und brennender Barrikaden und vor den Revolutionären kuschender Obrigkeit sehr deutlich von der des Jahres 1848, so wie auch unsere Situation natürlich sehr verschieden ist von der der Jahre nach 1870, obwohl Reichseinigung und Wiedervereinigung zum Vergleich einladen. Zuletzt ist alles, was das 19. Jahrhundert ausgemacht hat, von der Gegenwart durch Verhältnisse, Denkweisen und Empfindungen getrennt, auch und gerade das, was zum "Vormärz", zu 1848, dem nachfolgenden Jahrzehnt der "Reaktion" und dann der deutschen Einheit gehörte, die zwischen 1864 und 1871 durch Bismarck und die Machtmittel des preußischen Staates geschaffen wurde. Allerdings gibt es doch wie immer bei der Beschäftigung mit Geschichte die Möglichkeit zu lehrreichen Beobachtungen, die uns – nach einem Wort Jacob Burckhardts – nicht klug für ein andermal, aber weise für immer machen können.

Wenn es eine Ära gab, in der politischer Idealismus eine bestimmende Rolle spielte, dann im "Vormärz", den Jahren zwischen dem Ende der Befreiungskriege gegen Napoleon, dem Wiener Kongreß und dem Ausbruch der Revolution im Jahr 1848.

Der Vormärz brachte vor allem einen Enthusiasmus für die Freiheit hervor, wie man ihn wohl nie zuvor gekannt hat. 1827 schrieb Heine in seinen Reisebildern: "Was ist die große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie [...] dieses ist der eigentliche Glaube der Zeit, in diesem lebt sie und stirbt sie, und auch wir wollen leben und sterben in dieser Freiheitsreligion, die vielleicht mehr den Namen Religion verdient als das hohle Seelengespenst, das wir noch so zu nennen pflegen."

Das 19. Jahrhundert hatte also eine "Religion", und in der glaubte man an die "Freiheit", der Liberalismus lieferte der neuen Kirche das Dogma, und England hat Anspruch darauf, die "älteste Tochter" dieser Kirche genannt zu werden. Die Bezeichnung "Liberale" entstand allerdings in Spanien, wo sich zuerst die Sympathisanten der liberales, jener Partei, die dem Land eine moderne Verfassung geben wollte, so nannten. Der Begriff trat dann in England zunehmend an die Stelle des älteren Parteinamens der whigs und ersetzte ihn schließlich. Die Liberalen hatten wenig Neues anzubieten, verstanden es aber wirkungsvoll, ältere, vor allem aus dem Fundus der Aufklärung stammende Vorstellungen mit dem Aufstiegswillen der Mittelschichten zu verknüpfen. Zu ihrem politischen Credo gehörte das Recht des Individuums auf Entfaltung, vor allem seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten, dementsprechend die Forderung nach Freiheit des Marktes von staatlichen Einwirkungen, die vernünftige Ordnung der Gesellschaft und der Glaube an den Fortschritt der Menschheit durch Selbstbestimmung, Rationalität und Wohlstand.

Das 19. war das englische Jahrhundert nicht nur wegen der außerordentlichen Machtentfaltung Großbritanniens, das sich ein Imperium schuf, wie es die Welt seit dem Untergang des römischen nicht mehr gesehen hatte, sondern auch, insofern es das Jahrhundert des Liberalismus war. Die neue Ideologie nutzte England als "Sprungbrett" (Ernest Gellner) und trat von hier aus einen Siegeszug an, der über den europäischen Kontinent hinging.

Selbstverständlich hatte der festländische Liberalismus auch eigene Traditionen, die zum Teil sehr verschieden von den englischen waren, aber im Grundsatz bestand Einigkeit in dem Ziel, jene "klassenlose Bürgergesellschaft" (Lothar Gall) zu erreichen, in der das Individuum seine Stellung nach Maßgabe seiner Leistung erhielt und mit Hilfe der prinzipiellen Gleichheit der einzelnen allzu große Vermögensunterschiede ausgeglichen sein würden. Die Länder sollten im Inneren vernünftig regiert werden, nach außen sollte die wohltätige und pazifizierende Wirkung des Handels den Krieg unsinnig erscheinen lassen. Die Menschheit ging nach der Hoffnung der Liberalen endlich ihrem Ziel entgegen: einer brüderlichen Gemeinschaft, die sich dem Austausch der je besonderen Begabungen, der Pflege von Kunst und Wissenschaft widmen könnte.

Es gab selbstverständlich Widerstand gegen diese Sicht der Dinge; vor allem die Konservativen äußerten sich entschieden gegen das Vertrauen, das die Liberalen in den "Fortschritt" setzten. Aber sie unterlagen, trotz der mächtigen Verbündeten, die sie besaßen: der Erfahrung von Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, in denen der Grundsatz gegolten hatte, daß der Mangel das Normale, der Überfluß die Ausnahme war, der Auffassung der christlichen Lehre, daß eine grundsätzliche Veränderung zum Guten nach dem Sündenfall unmöglich, die Evolution – der Aufstieg – ausgeschlossen, die Involution – der Abstieg, von kurzen Gnadenfristen, die Gott einräumte, einmal abgesehen – bis hin zum Jüngsten Gericht das sichere Schicksal der Menschheit bedeutete.

Wie gering die Ausstrahlungskraft solcher Vorstellungen trotz oder gerade wegen ihres ehrwürdigen Alters geworden war, hat dann die Revolution von 1848 deutlich gezeigt. In allen europäischen Ländern, die von den Erhebungen erfaßt wurden, brach der konservative Widerstand in kurzer Zeit zusammen, haben sich die Bewahrer den neuen Kräften rasch als Verbündete angeboten, waren die liberalen Forderungen bald in aller Munde. Alle Welt schien liberal zu sein. Aber das war nur ein Moment, schon während der revolutionären Umwälzung im engeren Sinn machten sich zwei Tendenzen bemerkbar, die deren liberalen Charakter in Frage stellten: einmal das Auftreten einer "Neuen Linken", die die Führung der gemäßigten Kräfte des Bürgertums nicht länger anerkennen wollte, vielmehr im Namen der "Demokratie" gegen sie auftrat und jakobinische, aber auch "communistische" Forderungen erhob, zum zweiten die Neigung des Bürgertums, sich nach einer "starken Hand" umzusehen, die die "rote Gefahr", das Aufbegehren von kleinem Mittelstand, Deklassierten und Proletariat, bändigen würde.

Es ist hier nicht der Ort, um diesen Tendenzen weiter nachzugehen, nur soviel sei gesagt, daß ihr Auftreten einen stärkeren Anteil am Scheitern der Revolution von 1848 hatte als die Kräfte der Reaktion, deren Sieg doch im wesentlichen auf die Schwäche ihres Gegners zurückging. Die Niederlage des Liberalismus sollte in ihrer Bedeutung aber auch nicht überbewertet werden. Das gilt vor allem für den deutschen Fall: denn hier wurde 1848 "dem politischen Geiste [...] binnen eines einzigen Jahres ein größerer Vorschub geleistet als durch die Geschichte des vorangegangenen Menschenalters, angefüllt mit patriotischen Träumen". Der Satz stammt von einem Mann, der eigentlich allen Anlaß hatte, sich zu den Geschlagenen der März-Bewegung zu rechnen: Ludwig August von Rochau. (…)

1853 erschien Rochaus "Grundsätze der Realpolitik", 1859 eine unveränderte Neuauflage, zehn Jahre später, unter völlig gewandelten Umständen, ein zweiter Teil. Es mag den einen oder anderen überraschen, daß der Begriff "Realpolitik" von einem Liberalen geprägt wurde, und die Überraschung ist insofern berechtigt, als das Buch Rochaus tatsächlich über weite Strecken eine Kritik – eine scharfe Selbstkritik – des Liberalismus war; schon einleitend hieß es: "Das Studium der Kräfte, welche den Staat gestalten, tragen, umwandeln, ist der Ausgangspunkt aller politischen Erkenntnis, deren erster Schritt zu der Einsicht führt: daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt. Die ältere Staatswissenschaft hatte diese Wahrheit vollkommen inne, aber sie zog eine falsche und verderbliche Folgerung aus derselben – das Recht des Stärkeren. Die Neuzeit hat diesen unsittlichen Fehlschluß berichtigt, aber indem sie sich von dem angeblichen Rechte des Stärkeren lossagte, war sie nur allzu geneigt, auch wirkliche Macht des Stärkern und die Notwendigkeit ihrer staatlichen Geltung zu verkennen. Dieser Irrtum ist die Ursache der gröbsten Mißgriffe und der schwersten Niederlagen geworden, welche die Verfassungspolitik in der Mehrzahl der europäischen Staaten seit einigen Menschenaltern begingen und erlitten."

Wenn Rochau jeder "Idealpolitik" im Namen der "Realpolitik" widersprach und sich dabei auf die "Natur" des Staates berief, dann hing diese Argumentation eng mit einem agonalen Bild der Natur zusammen, das sich von dem älteren, "idealistischen", stark ästhetisch und harmonisch gerichteten unterschied. Die "Natur" war für Rochau keine Parklandschaft, sondern ein Dschungel. Natur bedeutete für Rochau "Kampf", noch nicht im Sinne von Darwins struggle for life, aber doch in der Tradition, die sich bis zu Machiavelli zurückführen läßt, der als erster Moderner die Politik ausdrücklich als Kampfplatz für "Füchse" und "Wölfe" verstand. Allerdings hätte Rochau die Einordnung in diese Traditionslinie wohl abgelehnt, wie sich seiner Wendung gegen die "Naturalisten" und seinem oben zitierten Einwand gegen die Vorstellung von einem "Recht des Stärkeren" entnehmen läßt. Indes sind seine Gedanken über die Grenzen des in der Politik sittlich Erlaubten immer undeutlich geblieben, und er gestand notgedrungen zu, daß es eine faktische Trennung von "öffentlicher" und "Privatmoral" geben müsse, und er hielt den "Erfolg" für ein entscheidendes Kriterium aller politischen Handlungen. (…)

Rochau hat in seiner Realpolitik den Kern der "Ideen von 1871" vorformuliert. Die "Ideen von 1871", ein zugegebenermaßen ungewohnter Begriff, waren nicht himmelstürmend wie die von 1848, eher auf Vermittlung des Gewordenen und des Neuen, von Ordnung und Freiheit, deutscher Macht und europäischer Stabilität ausgerichtet, und vielleicht gehört zu den wirklich tragischen Momenten der deutschen Geschichte, daß daran nicht festgehalten wurde, wahrscheinlich, weil sich daran nicht festhalten ließ.

Auf dem Vorhandensein solcher "Ideen" ist auch zu beharren gegenüber dem Einwand des bedeutendsten Kritikers politischer Ideen und des politischen Idealismus überhaupt. Bismarcks oft zitierte Äußerung nach seiner Entlassung – in einer Ansprache vor einer Delegation der Universität Jena am 30. Juli 1892 – "Die Politik ist [...] an sich keine logische und keine exakte Wissenschaft, sondern sie ist die Fähigkeit, in jedem wechselnden Moment der Situation das am wenigsten Schädliche oder das Zweckmäßigste zu wählen" variierte einen von ihm immer wieder vorgetragenen Gedanken, daß nämlich die Politik "die Lehre vom Möglichen" sei. Aber die Formulierung enthält keine Maßstäbe für das "Mögliche", sowenig wie Kriterien für das "Zweckmäßige". Daß Bismarck, der "weiße Revolutionär", der Konservative mit der ausgeprägten Respektlosigkeit gegenüber so vielen überlieferten Einrichtungen und Vorstellungen, seiner Orientierung gewiß war, ohne in Opportunismus oder Schlaumeierei zu verfallen, kann als sicher gelten.

Aber der Urmeter des politischen Maßes, über den er verfügte, war zu einer Zeit geeicht worden, die am Ende seines Lebens selbst lange vorbei war. Oft genug ist ihm das ins Bewußtsein gedrungen, ebenso wie die Tatsache, daß die Synthese von 1870/71 nicht bewahrt werden konnte unter dem Druck der sich stürmisch verändernden Wirklichkeit.

Und Rochaus Annahme, daß es ein undiskutierbar gültiges Sittengesetz gebe, daß dieses Sittengesetz sich politisch in der Vorherrschaft des alten Kontinents über die Welt kundtue und im Kern nicht zu beseitigen sei, das alles erschien schon der nach der Reichsgründung aufwachsenden Generation kaum länger selbstverständlich. Gerade die Liberalen, die aus der Niederlage von 1848 gelernt hatten und die Reichsgründung von 1871 befürworteten, "leiteten [...] den großen Prozeß der sog. ’Realisierung‘ des Staates ein, durch den der Staat wie früher von der geistlichen, so jetzt von dem idealistischen Element befreit wurde, um als bloße, von der Idee verlassene ’Macht‘ übrigzubleiben, als eine Naturgewalt, der man sich, wie der übrigen, zu bedienen und zu erwehren habe" (Otto Westphal).

Ein typischer Repräsentant des neuen Denkens war Heinrich von Treitschke, der in seinen damals berühmten Vorlesungen zur "Politik" ganz in diesem Sinn erklärte, "daß das Wesen des Staates zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht ist". Dagegen läßt sich billig moralisieren, aber wenig einwenden, und der außerordentliche Einfluß, den Treitschke vor allem auf die Studenten und jungen Akademiker besaß, hing damit zusammen, daß sie den Eindruck gewannen, hier werde ihnen endlich und ungeschminkt die Wahrheit gesagt.

Treitschkes Bewunderung für Rochau, in dem er den Erneuerer der Staatslehre des deutschen Liberalismus sah, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Treitschke selbst eine ungleich härtere Wahrheit verkündete als der Erfinder der "Realpolitik". Der "Naturalismus" auch und gerade der liberalen Staatslehre des Kaiserreichs erklärt sich wohl aus demselben Wunsch, die Täuschungen und Selbsttäuschungen beiseitezuschieben, der Rochau trieb, aber er konnte immer weniger erklären, was ihn eigentlich von einer – sagen wir es unmißverständlich – zynischen Deutung der Wirklichkeit trennte, die nur noch den ewigen und letztlich sinnlosen Kampf aller gegen alle sah.

Was Männer wie Treitschke und eine Generation später Max Weber in Deutschland, aber auch das, was die Briten John R. Seeley und John Halford Mackinder, die Amerikaner Alfred Thayer Mahan und John Fiske, die Italiener Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto, schließlich noch die Franzosen Ernest Renan und Gustave Le Bon – der berühmte Analytiker der Massenseele – einte, war ein Widerwille gegen Illusionen in der Betrachtung der Geschichte und der Gegenwart des Völkerlebens, und es war ihnen darüber hinaus "der Sinn für die Abstrakta abhanden gekommen" (Werner Sombart).

Sie alle kamen ursprünglich aus dem Lager des Liberalismus und hatten – der eine mehr, der andere weniger – ihren Idealismus gehabt, aber jetzt gab ihnen die "Menschheit" so wenig wie das "Reich der Freiheit", die vollständige Begreifbarkeit des Kosmos oder die Idee, die Welt mit Hilfe der Wissenschaft heilen zu können, ein Ziel ab, nach dem sie streben mochten. Ihre Nüchternheit kannte das Gefühl der Verzweiflung, gab sich ihm aber nicht hin. Paradoxerweise wurden sie von dem Wunsch getrieben, in der dünneren Luft, in der sie leben mußten, eine bleibende und große Leistung zu vollbringen. Aber ihre Neigung, "in Abgründe zu starren" (Werner Sombart) hatte auch einen nihilistischen Zug.

Damit noch einmal zum Ausgangspunkt zurück: Es gibt heute bei vielen Beobachtern ein Gefühl der Erleichterung, wenn sie die Politik, die da im Namen der "Neuen Mitte" betrieben wird, beobachten, und diese Erleichterung hat ohne Zweifel mit dem "Realismus" als Kennzeichen der Läuterung und gewachsenen Einsicht zu tun.

Die Erleichterung hängt auch zusammen mit der Vorstellung vieler Liberaler und Konservativer, man müsse die Linke zur Wirklichkeit erziehen, dann werde sie vernünftig und ihren irregeleiteten Idealismus aufgeben. Es ist allerdings mehr als fragwürdig, ob die Linke solcher Lehren je bedurfte. Ihre Erfolge in den vergangenen Jahrzehnten lassen sich mit mangelndem Wirklichkeitssinn eigentlich nur schwer erklären, vielleicht aber mit einer höher entwickelten Täuschungsfähigkeit, mit der verglichen der ganze Realismus der Rechten etwas lächerlich wirkt. Möglicherweise sind gerade die die Meister des struggle for life, die dessen Existenz oder Berechtigung in der Menschenwelt immer in Abrede gestellt haben, möglicherweise sind diejenigen allein feindfähig, die das Freund-Feind-Denken immer bekämpfen, möglicherweise will die Welt betrogen sein, – möglicherweise.

Zuletzt noch dieser Einwand: Die Gewichte zwischen "Idealismus" und "Realismus" sind nicht so klar verteilt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Idealismus des Vormärz hatte wie jeder Idealismus seine Schwächen und Fehler und Lächerlichkeiten, aber auch seine historische Notwendigkeit. Ohne sie war das überschießende Moment nicht zu haben, das am Anfang jeder politischen Bewegung notwendig ist. Idealismus wird im alltäglichen Sprachgebrauch vor allem und mit einem gewissen Recht als Aufhebung des egoistischen Selbstbezugs verstanden. Natürlich wird Idealismus von den Realisten, die unter Realismus einfach Konservierung versehen, immer belächelt, wenn nicht angefeindet oder bekämpft.

Aber im Prinzip ist die Auffassung, daß ein solches Beharren der Wirklichkeit entspricht, ihrerseits nur selten "wirklichkeitstauglich". Selbst in dem jugendlichen Rausch und der Unvernunft der Deutschen Bewegung des Vormärz steckte auf das Ende hin betrachtet mehr Realismus als in dem wohlerwogenen Entschluß des Realisten Metternich, die Dinge zu erhalten, wie sie waren.

Niemand, der den Status quo ändern will, kann ohne Idealismus auskommen, auch nicht ohne Idealismus in dem wohlverstandenen Sinn, in dem er zur vornehmsten deutschen Geistestradition gehört.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen. Bei seinem Text handelt es sich um einen stark gekürzten Auszug aus seinem neuen Buch "Alles was recht(s) ist", das demnächst im Leopold Stocker Verlag, Graz, erscheint.


 
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