© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Viele Welten, viele Historiker, wenig Stellen
Eine Bilanz des 43. Deutschen Historikertages in Aachen
Orlanda Rossetti

Der 43. Deutsche Historikertag in Aachen erlebte seine erste Panne, noch bevor er richtig begonnen hatte. Ins Programmheft der Veranstaltung war eine Anzeige des Grabert-Verlages (Tübingen) gerutscht. Der Vorsitzende des "Verbandes der Historiker und Historikerinnen", der Frankfurter Mediävist Johannes Fried, mußte sich in einer Presseerklärung dafür entschuldigen. Der Verband distanziere sich mit Nachdruck "von dem aus der Anzeige nicht klar hervorgehenden rechtsextremistischen Programm des Verlages". Die Gebühr werde dem Verein für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Aachen gespendet. Damit nicht genug, eilig rief man eine Diskussionsveranstaltung zum Rechtsextremismus ins Leben, auf welcher der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert einmal mehr Stoiber und seinem Wort von der "durchrassten Gesellschaft" die Schuld für die Fremdenfeindlichkeit in die Schuhe schob. Die Historiker scheinen also auch nach 200 Jahren professioneller Tätigkeit immer noch nicht die fachlich gebotene Distanz zur Parteipolitik gefunden zu haben. Auch das Motto der Veranstaltung "Eine Welt – Eine Geschichte?" zeugt nicht gerade von intellektueller Weitsicht. Immerhin unterschied man sich mit dem Fragezeichen von den sattsam bekannten Eine-Welt-Motti evangelischer Kirchentagsveranstaltungen. Die gewohnte Vielfalt der Sektionen von "Pfalzenforschung heute" bis zu "Kultur- und sozialgeschichtlichen Aspekte des Fußballs" zeigte dann auch die Pluralität des Faches und seiner Gegenstände.

Mit besonderer Spannung wurde auch diesmal die Veranstaltung zu den Historikern im Dritten Reich erwartet, jenen Ordinarien also, die vielfach zu akademischen Lehrern der immer noch einflußreichen westdeutschen Sozialhistorikern der sechziger und siebziger Jahre wurden. Im Vergleich mit letzten Historikertagung in Frankfurt (1998), als das nämliche Thema hochemotional präsentiert wurde, zeigte die Aachener Debatte geradezu wohltuend sachliche Züge. Auch das Publikumsinteresse hatte merklich abgenommen, diesmal reichte ein Hörsaal für die Veranstaltung aus, in Frankfurt hatte man noch per Videoschaltung ein sensationslüsternes Auditorium versorgen müssen. Der Nestor der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft, Hans-Ulrich Wehler, durch die Involvierung seines Lehrers Theodor Schieder besonders betroffen, plädierte für einen neuen Zugriff auf das Thema. An Stelle der individualisierenden (lies: anklagenden) Historie schlug er einen strukturellen, an Bourdieus Habitus-Begriff orientierten Blick auf die Historikergeneration der Weltkriegsepoche vor. Letztlich geriet ihm dieser jedoch wieder einmal zu einer deutschen Deformationsgeschichte: Die Conzes, Schieders und Erdmanns seien nationalprotestantisch, bündisch und antiliberal geprägt worden und daher besonders anfällig für den Nationalsozialismus gewesen. Mit diesem hätten sie eine weitgehende Kongruenz der Ziele besessen: Die Suprematie der Nation und die Revision von Versailles. Hinzugekommen sei die Illusion einer fortbestehenden Wissenschaftsautonomie und eine neue Aufstiegsmobilität, gepaart mit neuen Projekten und Instituten. Damit wärmte Wehler den alten schwammigen Vorwurf von konservativen Affinitäten zum Nationalsozialismus auf, der den Blick auf die konkrete innen- und außenpolitische Situation der Weimarer Republik versperrt. Wehler präsentierte die Historiker der damaligen Zeit jedoch ebenso wie der Wissenschaftliche Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Hans-Erich Volkmann, als "Neben- und Nachdenker" (Volkmann) des Dritten Reiches. Im Vergleich zur Frankfurter Sektion kehrte sich das Verhältnis um, die Volkshistoriker der zwanziger und dreißiger Jahre erschienen nun methodisch und strukturell als Profiteure des Nationalsozialismus und nicht mehr umgekehrt als dessen Vordenker. Die Rolle der Historikerzunft wurde damit auf ein realistisches Maß zurechtgestutzt. Einzig Michael Fahlbusch, neben Peter Schöttler und Ingo Haar der Hauptagitator gegen die geschichtswissenschaftlichen Vorvorgänger, rief mit bebender Stimme dazu auf, die inkriminierten Historiker in die Holocaust-Forschung einzubeziehen. Ungefragt berichtete er, in diesem Sinne werde er demnächst in den USA vorstellig werden. Der Vortrag und die Diskussionsbeiträge Wehlers warteten dagegen mit einigen Überraschungen auf: Zum einen bestanden diese in der Verwendung des vormals geschmähten Totalitarismusbegriffes, der Wehler auch nach einem linken Totalitarismus fragen ließ. Zum anderen in einer sich um Verständnis bemühenden Diktion, die streckenweise an Wehlers alten, inzwischen verstorbenen Rivalen Thomas Nipperdey erinnern ließ. Der Knüller von Wehlers Einschätzungen war jedoch sein Hinweis auf russische Kollegen, die ihn gefragt hätten, ob angesichts ungleich größerer Verbrechen des Bolschewismus den deutschen antikommunistischen Historikern nicht ein historisches Recht zugemessen werden müßte. Wehler bemerkte dazu ironisch, es werde dazu wohl noch hitzige Debatten in bundesdeutschen Doktorandenkolloquien geben, denen er sich als Emeritus glücklicherweise nicht mehr aussetzen müsse.

Anschließend konterkarierte Hans-Erich Volkmann Wehlers strukturgeschichtliches Postulat mit einem Referat über den in lange in Breslau tätigen Mediävisten Hermann Aubin, das an eine mittlere Proseminararbeit erinnerte. Wichtig war jedoch sein Hinweis auf die bis 1939 und dann wieder nach 1945 polnische Westforschung, die in ähnlicher Weise wie die deutsche Ostforschung zu einer dezidiert "politischen" Wissenschaft geworden sei. Damit verließ er endlich einmal die deutsche Nabelschau und ignorierte wenigtens ansatzweise die engen, moralinsauren bundesdeutschen Interpretationen der Disziplingeschichte.

Richtig spannend wurde es, als aus dem Auditorium die Frage nach dem bleibenden Wert der Volksgeschichte und Kulturbodenforschung im Dritten Reich gestellt wurde. Wehler verwies auf Otto Brunner, der trotz (!) der Übernahme von Begriffen Carl Schmitts im Ausland in aller Munde sei. Die Innovationsbereitschaft, die Interdisziplinarität und das universelle Interesse der Volksgeschichtler seien beispielhaft gewesen. Wenn die Debatte künftig nicht von Historikern wie Willi Oberkrome bestimmt wird, der die Heimatforschung der Nachkriegszeit lächerlich machte, können also vielleicht doch noch brauchbare wissenschaftsgeschichtliche Resultate erzielt werden.

Ein ganz anderes brisantes Thema wurde auf einer Veranstaltung zur Situation der gegenwärtigen Nachwuchshistoriker angeschnitten. Mittlerweile gieren ca. 220 Privatdozenten ohne feste Anstellung nach den durchschnittlich nur vierzehn jährlich freiwerdenden Professorenstellen im Fach Geschichte. Dies führt dazu, daß sich auf die ausgeschriebene Zeithistorikerstelle in Hamburg 109 Historiker beworben haben. Das Durchschnittsalter eines geschichtswissenschaftlichen Habilitanten liegt bei 41 Jahre, zu alt, um sich noch anderswo nach Berufsperspektiven umzuschauen. Diese prekäre Situation müßte den Historikern eigentlich die Augen für karrierebedingte Anpassung im Dritten Reich öffnen, zumal der Nachwuchs damals noch schlechter dotiert und als "Wissenschaftliche Hilfsarbeiter" tituliert wurde.

Der Versuch von Nachwuchshistorikern, öffentlich mehr Professorenstellen zu fordern, wurde vom Münchener Ordinarius Winfried Schulze jedoch als "dumm" bezeichnet. Auch die vom Edelgard Bulmahns Wissenschaftsministerium ins gespräch gebrachte Juniorprofessur wird kaum Abhilfe schaffen, da sie kostenneutral und zeitlich begrenzt eingerichtet werden soll. Erstaunlich war der defensive, geradezu defätistische Zungenschlag der Nachwuchshistoriker. Dabei hatte die örtliche Lokalzeitung, die Aachener Nachrichten, eine Steilvorlage geliefert mit ihrer Schlagzeile "Historiker warnen vor dem Ausbluten ihres Fachs" . Zwar wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und den Universitäten eifrig Nachwuchs produziert, nach langjähriger erfolgter Ausbildung erwartet diesen dann jedoch ein Vabanquespiel. Der Verweis von Bruno Zimmermann (DFG), Ende der sechziger Jahre habe es schon einmal eine vergleichbare Situation gegeben, war auch nicht geeignet, neue Hoffnung zu verbreiten. Frischer war da schon der Hinweis der Geschlechterhistorikerin Daniel, ein Deutschland in den Grenzen von 1937 böte neue Chancen für den Nachwuchs. Diesem Sarkasmus fügte sie jedoch noch einen realistischen Vorschlag hinzu, der sich für ein Sonderprogramm von personenbezogenen Professuren einsetzte.

Zum neuen Verbandspräsidenten wurde auf dem Historikertag der Göttinger Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier gewählt. Ihm ist zu wünschen, daß ihm so gravierende Fehlleistungen wie die Friedsche Anzeigenakquisition erspart bleiben.


 
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