© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
"Richter Gnadenlos" vor dem Kadi
Hamburg: Der Prozeß gegen Richter Schill geht bald in die vierte Woche
Claudia Hansen

Seit drei Wochen läuft vor dem Landgericht Hamburg ein Prozeß, der wohl zu Recht als der "ungewöhnlichste in der Nachkriegsgeschichte der Stadt" bezeichnet wird. Gegen den Amtsrichter Ronald B. Schill hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung im Amt. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe. Schill hatte im Juni letzten Jahres den Prozeß gegen Aktivisten des linksextremen Szenetreffs "Rote Flora" geführt. Als zwei Zuschauer, Sympathisanten der linken Gewalttäter, bei der Urteilsverkündung den Weisungen des Gerichts zuwider sich nicht erheben wollten und damit demonstrativ ihre Mißachtung der Justiz zeigten, verhängte Schill gegen sie eine dreitägige Ordnungshaft. Ihm wird nun vorgeworfen, die Beschwerden der so Gemaßregelten nicht unverzüglich bearbeitet bzw. weitergeleitet zu haben.

Bei den ersten Verhandlungstagen konnte man direkt Mitleid kriegen mit dem Staatsanwalt, nachdem Schills Verteidiger Walter Wellinghausen ihm immer neue, peinliche Fehler und Ungenauigkeiten nachweisen konnte. So wurde der Öffentlichkeit vorenthalten, daß einer der beiden Prozeßstörer noch kurz zuvor im allgemeinen Tumult eine Wachtmeisterin getreten und ihr schwere Blutergüsse zugefügt hatte. Die Justizangestellte hatte deswegen Anzeige erstattet. Der Anklagevertreter wurde sichtlich blasser, als Wellinghausen ihm vorwarf, nicht sorgfältig ermittelt zu haben. Fast anderthalb Jahre nach der Tat muß der ermittelnde Staatsanwalt vor Gericht eingestehen, von der tätlichen Attacke gegen die Wachtmeisterin hätte er "gerne vorher gewußt". Wellinghausen: "Mir ist unerfindlich, warum das Verfahren wegen Körperverletzung bei einem so einfachen Sachverhalt ein Jahr und vier Monate nach der Aufnahme der Ermittlungen noch nicht abgeschlossen ist."

Der nächste Verhandlungstermin wurde noch ärger: Landgerichtspräsident Heiko Raabe, der Schill noch Anfang diesen Jahres gegen dessen Willen ins Zivilgericht versetzt hatte, informierte das Gericht, bei der Lektüre seiner Zeitung habe er sich plötzlich an "möglicherweise entlastende" Tatsachen erinnern können. Raabe, der den Namen Schill im letzten Jahr fast täglich hören mußte und sich um die "Kaltstellung" des unbequemen Amtsrichters gekümmert hatte, diesem Vorgesetzten fiel also auf einmal wieder ein, daß er selbst mit Schill zur fraglichen Zeit über die nötige Bearbeitungszeit der Beschwerden gesprochen hatte. Dabei habe man einschlägige Gesetzestexte und Interpretationen studiert und sich beraten. Zu diesem Gespräch habe er sich sogar Notizen gemacht.

Verteidiger Wellinghausen: "Die Verteidigung nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, daß erst die Veröffentlichung im Abendblatt beim Präsidenten die Erinnerung zurückgebracht hat, daß er Kenntnis über Umstände hat, die ‘möglicherweise entlastend für Herrn Schill‘ sein könnten." Die Staatsanwaltschaft zeigte sich überrascht über die "ungewöhnliche" Mitteilung. Schill selbst wollte Raabe in einer Befragung eine feindliche Grundeinstellung ihm gegenüber nachweisen. Der Gerichtspräsident bestritt, wichtige Informationen zurückgehalten zu haben. Am vierten Verhandlungstag diesen Montag verschärfte sich der Ton des Streites merklich, als die Verteidigung auf eine Ablösung der Anklagevertretung drängte. Am Mittwoch wird Schill sich zu den Vorwürfen vor Gericht erstmals äußern, das Urteil könnte am Freitag gefällt werden.


 
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