© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/00 13. Oktober 2000

 
Hysterie und Panik
Die Politik des Zentralrats der Juden in Deutschland
Peter Sichrovsky

Niemand hat die Absicht, die Anschläge gegen Synagogen, jüdische Friedhöfe und Einrichtungen der jüdischen Gemeinden zu verharmlosen. Doch seit dem verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hob die Elite der deutschen Gesellschaft die jeweiligen Gemeindevorsitzenden, Stellvertreter, Museumsdirektoren, jüdischen Schriftsteller und wer sonst noch als Vertreter des Judentums gilt, auf eine imaginäre Gewissensbühne.

Der böse Blick nach "Rechts" mit den Scheuklappen nach "Links" (die hatte wenigstens Bubis nicht!) macht aus der berechtigten Sorge um die Anschläge eine peinliche Show der "Anständigen" im Lande gegen die "Unanständigen", die angeblich an den Schandtaten entweder beteiligt sind oder sie zumindest nicht verhinderten.

Mit einer unglaublichen Leichtfertigkeit wird hier je nach Belieben ausgeteilt, und jede Form von Selbstkritik ist verboten. Es wäre in der Tat pervers, den Juden nun selbst die Schuld zuzuschieben an den Anschlägen, aber wieviel Sympathie und Verständnis darf eine Gruppe von Deutschen erwarten, die ständig die "Anderen" im eigenen Volk als verantwortlich verurteilt und sich selbst herausnimmt?

Würden sich die Juden heute wie ihre Vorfahren als Deutsche fühlen, so könnten sie nicht den Unterschied zwischen Juden und Deutschen kultivieren, sondern müßten einsehen, daß auch unter Juden derselbe Prozentsatz von unberechenbaren Fanatikern lebt wie unter allen anderen Deutschen.

Ignatz Bubis antwortete einst auf die Frage, wie sich die Juden im Dritten Reich verhalten hätten, wären die Nazis keine Antisemiten gewesen: "Genauso wie alle Deutschen!"

Er fühlte sich offenbar als Deutscher und nicht als ein jüdischer, verfolgter Fremder in Deutschland. Herr Jiordani möchte die Juden bewaffnen, Herr Spiegel fragt sich, warum noch Juden in Deutschland leben, und Herr Friedman steht verlegen Hand in Hand mit einem weiblichen Star wie ein kleiner Junge mit nassen Hosen bei einem "Prominententreff gegen Rechts" – wieviel Peinlichkeit kann das Judentum in Deutschland noch ertragen?

Wie sagte Albert Einstein einst:

Schau ich mir die Juden an

Hab ich wenig Freude dran

Fallen mir die Andren ein

Bin ich froh, ein Jud zu sein!

Zur Zeit befinden wir uns eher im Bereich des Endes der zweiten Zeile!

Besonders interessant waren die Reaktionen der "deutschen Berufsjuden" auf die Anschläge palästinensischer Demonstranten gegen Synagogen. Wo waren sie plötzlich, diese Fachleute für "Gut" und "Böse"? Oder trauten sie sich nicht, ebenso scharf gegen diese Demonstranten vorzugehen?

Vielleicht macht es sich nicht so gut in der "Tagesschau", in CNN und in den Interviews in den Medien, wenn ein Jude aus Deutschland massivst den Protest der Araber in Deutschland gegen Israel kritisiert? Wie würde es wohl aussehen, wenn Vertreter der jüdischen Gemeinden öffentlich behaupten, daß die Palästinenser in Deutschland eine Gefahr für die Juden hier wären? Paßt irgendwie nicht ins System, das man sich über die Jahrzehnte so vorsichtig aufgebaut hat!

So warnen sie plaziert weiter. Wir sehen sie in jeder Talk-Show, und sie flüchten sich in eine Lebenslüge, die immer mehr Juden den Ekel hochtreibt. Mehr Bewachung fordern sie, immer mehr Schutz, so daß unsere Kinder endgültig verstehen, daß die Zeit des Nationalsozialismus doch noch nicht so lange her ist. Vor allem die jüdischen Kinder leiden unter diesen Lügen und wachsen auf in einer Atmosphäre des Hasses und der Angst, die die Berufsjuden gar nicht zu normalisieren versuchen, sondern nur noch weiter dramatisieren.

Statt die nächste Generation unter den Juden in Deutschland zu beruhigen, ihnen zu versichern, daß sie endlich in einer stabilen Demokratie leben, wird Hysterie und Panik verbreitet. So geben sie ihre eigenen Neurosen weiter und haben nur vor einer Situationen wirklich Angst: Daß Juden in Deutschland endlich in der dritten und vierten Generation nach Hitler wieder integriert in der nichtjüdischen Gesellschaft leben.

Diese Form der medialen Sonderstellung, wie sie jetzt vorgeführt wird, genießen vielleicht die paar Funktionäre, denen das notwendige Selbstbewußtsein fehlt. Für die nächsten Generationen der Juden in Deutschland ist sie eine Katastrophe. Denn nichts widerspricht dem Leben so sehr wie eine vorgespielte Panik, die aus Gründen der Eitelkeit an die Kinder und Enkel weitergegeben wird.

Eine Normalität der Juden in Deutschland wird es erst geben, wenn ihre Funktionäre wieder zu Vertretern von Religionsgemeinschaften werden und sich nicht als "moralische Instanz" der Gesellschaft aufspielen. Der millionenfache Tod unseres Volkes berechtigt niemanden, im Namen dieser Toten zu sprechen, und schon gar nicht, andere zu verurteilen.

 

Peter Sichrovsky, Schriftsteller und Mitglied des Europaparlamentes, ist Vorsitzender des 1999 in Berlin gegründeten orthodoxen "Bundes Gesetzestreuer Jüdischer Gemeinden in Deutschland" (BGJGD), der sich – ähnlich den freikirchlichen evangelischen Gemeinden bezogen auf die EKD – unabhängig vom Zentralverband organisiert.


 
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