© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/00 06. Oktober 2000

 
Eine Geschäftsreise nach Straßburg
Europa: Die Lage der Zigeuner Mittel- und Südosteuropa ist schwierig / Ein soziales Pulverfaß entsteht / Roma sind mancherorts bald keine Minderheit mehr
Alexander Barti

Weitgehend unbeachtet von der deutschen und der "westlichen" Öffentlichkeit schwelt in Mittel- und Südosteuropa ein sozialer Konflikt, der es in sich hat. Mittlerweile hat er, über diverse Auswanderungswellen nach England, Kanada und Frankreich, den Europarat in Straßburg erreicht: es geht um die Lage der Zigeuner in den EU-Kandidatenländern. Die EU-Politiker haben sich bis jetzt merkwürdig bedeckt gehalten, wenn es darum ging, das Problem in Auge zu fassen oder zu kommentieren.

Die in Haidara/Indien erscheinende Tageszeitung New Times berichtete mit der Überschrift "Zigeunernation" über die gewaltigen Probleme und Schwierigkeiten, die auf Europa durch die Integration der Roma in die westliche Wertegesellschaft zukommen werden. Das Blatt berichtete weiter, daß sich die Zigeuner – die ursprünglich aus Indien stammen – sehr schnell vermehren würden. In Ungarn sei bereits jedes dritte in diesem Herbst eingeschulte Kind ein Zigeuner. Und dann stellt New Times einen Vergleich an, der, zumindest auf den ersten Blick, stichhaltig erscheint: So wie im 19. Jahrhundert die Juden zwei dramatische Alternativen gehabt hätten – nämlich entweder den Zionismus oder den internationalistischen marxistischen Staat, in dem die ethnische Herkunft keine Rolle mehr spielt –, so hätten jetzt auch die Roma in Europa die Wahl zwischen zwei Alternativen. Entweder sie schaffen es, sich in einer postnationalen Europäischen Union zu integrieren, oder sie erkämpfen sich einen "non-territorialen" Roma-Staat.

So verlockend dieser Vergleich zu sein scheint, so hinkt er doch an maßgeblicher Stelle: Erstens waren die Juden in Europa, von wenigen Kleinstädten im Osten abgesehen, nie in der ethnischen Mehrheit. Die Zigeuner hingegen werden schon bald in Teilen von Ungarn, der Slowakei und Rumänien die Bevölkerungsmehrheit stellen. Während die anderen Staatsangehörigen kaum noch Kinder gebären – wobei das Nacheifern westlichen Konsumverhaltens dabei eine entscheidende Rolle spielt –, sind Zigeunerfamilien mit zehn bis zwölf Kindern keine Seltenheit. Zeitens gehörten die Juden, ebenfalls abgesehen von einigen östlichen Landstrichen, meist zu den gebildeten Schichten. An der Entwicklung der demokratischen Bürgergesellschaft waren sie maßgeblich beteiligt. Während sie bei den gehobenen Berufszweigen wie
z.B. Rechtsanwälten, Ärzten, Bankiers und Kaufleuten oft in der Mehrheit waren, kommen die meisten Zigeuner heute kaum über die Volksschulbildung hinaus. Ihr Anteil bei den Universitätsabsolventen bewegt sich im Promillebereich. Drittens hatte das jüdische Volk in seiner mosaischen Religion und als Gegenpart zum Christentum jahrhundertelang eine feste Klammer und einen festen Bezugspunkt der eigenen Identität.

Diese "metaphysische Festung" können die Zigeuner nicht aufweisen. Zwar gibt es verschiedene Roma-Dialekte und eigene Märchen, aber die Pflege dieses Kulturgutes ist oft von Nicht-Roma aufgegriffen oder sogar initiiert worden. Viel eher gibt es aber eine negative Identifizierung: der Außenstehende, zumal in den betroffenen Ländern, sieht in den Roma meist nur den "Abschaum" der Gesellschaft. Wo sie in Großfamilien auftreten, gibt es Geschrei und Gezank, sie arbeiten nicht, sondern stehlen, sie sind schmutzig und ungepflegt, und ihre Behausungen gleichen vermüllten Ruinen. So und ähnlich lauten die Vorurteile, die – und das muß man deutlich zum Ausdruck bringen – östlich von Wien von der Erfahrung geprägt sind. Westeuropäer, die Roma höchstens aus Büchern, stimmungsvollen Filmen oder aus der Oper ("Der Zigeunerbaron") kennen, kanzeln Erfahrungsberichte schnell als ungerechte Vorurteile ab. So geschehen zum Beispiel Anfang des Jahres in Aussig, wo sich die Tschechen mit einer Mauer vor den "lieben Nachbarn" retten wollten. Der Aufschrei der Medien über dieses "menschenverachtende" Bauwerk war groß. Doch keiner der Menschenrechtsaktivisten hat je in solcher Nachbarschaft gelebt. Und damit nähert man sich – theoretisch – der entscheidenden Frage, wenn es darum geht, möglichst sachlich über das Roma-Problem zu reden. Sind sie so arm und unterprivilegiert, weil sie "schon immer" von den "anderen" verachtet wurden, oder sind sie "so", weil es ihrer Mentalität enspricht? Da es im Zeitalter der Gleichheit auch keine ungleichen "Volksmentalitäten" geben darf (nur "die" Deutschen waren schon immer böse), wird man auf eine befriedigende Antwort vergeblich warten dürfen.

Was bleibt, sind Einzelfälle. Zum Beispiel der mit den 47 Roma, die sich zur Zeit in Straßburg aufhalten und um politisches Asyl gebeten haben, weil sie in Ungarn "rassistisch diskriminiert" würden. Ihr Anführer ist József Krasznai, der erst kürzlich bei Simon Newman, dem Direktor für Flüchtlingsfragen des Europarates, vorsprechen durfte. Gegen Krasznai selbst laufen in Ungarn Ermittlungsverfahren wegen diverser Eigentumsdelikte, Unterschlagungen und Morddrohungen. Gelder, die er für die von ihm gegründete Selbstverwaltung der Zigeuner in Stuhlweißenburg/Székesfehérvár (Székesfehérvári Cigány Önkományzat) vom Staat bekommen hatte, flossen in seine eigene Tasche, Ebenso die 1,1 Millionen Forint (knapp 90.000 Mark), die er für die Exhumierung von Roma-Opfern des Zweiten Weltkrieges bekommen hatte. Nachdem Krasznai seine weitläufige Verwandtschaft in das Dorf Zámoly geholt hatte, besetzten sie das Bürgerhaus. Dort lebten sie monatelang, bis die Selbstverwaltung bereit war, ihnen Grundstücke und Baumaterial zur Verfügung zu stellen. Um eine bessere Integration (und eine Ghettoisierung zu verhindern) zu ermög-lichen, hatte man geplant, die Roma gleichmäßig in dem Dorf zu verteilen, aber sie bestanden darauf, alle an einer Stelle bauen zu dürfen. Dem wurde stattgegeben. In der Zwischenzeit, es gab nach dem Zuzug der Roma Einbrüche und einen Mord, wurde der Boden für Krasznai und seine Sippe zu heiß. Im November 1999 entschied man sich, Zámoly zu verlassen, um nach Csór zu ziehen. Dort, so Krasznai, sei man nicht gut aufgenommen worden, man habe von der Dorfbevölkerung sofort einen negativen Stempel bekommen. Es blieb also nichts anderes übrig, als vor dem "Rassismus" der ungarischen Gesellschaft zu fliehen. Da man 47 Flugscheine nach Kanada nicht bezahlen konnte, mietete man sich kurzerhand einen Bus und fuhr damit nach Straßburg: Die inzwischen 50 Personen – unter denen sich 24 Kinder befinden – haben sofort nach ihrer Ankunft im Elsaß beim Europäischen Gericht für Menschenrechte eine Klage gegen den ungarischen Staat eingereicht und um politisches Asyl in Frankreich ersucht. Die Zigeuner wohnen seit dem 24. Juli in einem Straßburger Studentenheim und behaupten eifrig, in ihrer Heimat Opfer von Todesdrohungen, Vandalenakten und tätlichen Angriffen gewesen zu sein. In Straßburg traf man dann nicht nur Newman, auch die Straßburger Stadträtin und Europaparlamentarierin Marie-Helene Gillig (von der Sozialistischen Partei) empfing Krasznai und verstieg sich zu einer harschen Kritik gegen das "rassistische" Ungarn. Die Sozialistin hat im September einen Antrag im EU-Parlament gestellt, in dem gefordert wird, daß der "Respekt der Menschenrechte in den Kandidatenländern für den EU-Beitritt künftig vermehrt berücksichtigt" werde. Daß man in
einem Streitfall auch die andere Seite anhören sollte, hatte sie offenbar vergessen.

Warum dem so ist, wird deutlich wenn man weiß, daß Krasznai nach eigenen Angaben der linksliberalen Partei SZDSZ nahe steht, die bis 1998 mit den Sozialisten Ungarn regiert hatte. Offenbar soll hier ein ähnlicher Mechanismus erprobt werden, wie schon bei den Österreich-Sanktionen, als die unterlegene SPÖ bei der Holocaustkonferenz in Stockholm Schützenhilfe gegen die neue Regierung in Wien "organisiert" hatte. Noch diffuser wird das Bild, wenn man erfährt, daß eine gewisse Katalin Katz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität von Jerusalem und Dokumentarfilmerin über den Roma-Holocaust, die Fahrt der ungarischen Zigeuner nach Straßburg mit 4.000 Dollar unterstützt hat.

Dem unbedarften Beobachter kommen bei der Verfolgung der internationalen Manöver zwei Gedanken in den Sinn: Entweder es wird von einigen auf Kosten von sozial Schwachen (Partei-)Politik betrieben, um die sicher im Sattel sitzende rechtsliberale Regierung in Budapest zu diskreditieren. Oder gewisse Kreise der Europäischen Union sind bestrebt, mit allen Mitteln die Osterweiterung zu verhindern. Gegen letztere Version spricht der Besuch Max van der Stoels, zuständig für Minderheitenfragen im Europarat, in Budapest am 7. September. Der lobte nämlich die Anstrengungen der ungarischen Regierung über alles und nannte die rechtliche Stellung der ethnischen Minderheiten – auch die der Roma – und ihre finanzielle Unterstützung durch den Staat vorbildlich.

Inzwischen hat Großbritannien den Visumzwang für die Slowaken aufgehoben. Ein durchsichtiges Manöver: Damit wird signalisiert, daß die politische Lage in der Slowakei in Ordnung ist, etwaige Roma-Asylanten können sofort abgeschoben werden. Und der französische Botschafter in Budapest hat den Führer einer Roma-Gruppe in Ózd, einer tristen Industriestadt in Nordostungarn, gebeten, doch bitte nicht auch noch nach Frankreich zu kommen. Denn Krasznai betreibt das Asylgeschäft aus Straßburg fleißig weiter. Und so sind die Roma in Straßburg zu einem wahren diplomatischen Problem zwischen Frankreich und Ungarn geworden. Wenn Paris ihnen den Flüchtlingsstatus zuerkennen würde, so entspräche dies dem Eingeständnis, daß in einem Kandidatenland für den Unionsbeitritt eine ethnische Minderheit verfolgt wird. Für das französische Flüchtlingsamt Ofpra kommt die demokratisch gewählte Budapester Regierung in den Genuß der sogenannten "Einstellungsklausel". Daher bekommen die geflohenen Zigeuner auch keine finanzielle Beihilfe, die Asylbewerbern in Frankreich im Normalfall bis zur Entscheidung ihres Falles zugestanden wird. Zahlreiche humanitäre Organisationen, darunter das Rote Kreuz, Medecins du Monde, Caritas und Cimade, haben unterdessen ein "Unterstützungskomitee" für die Roma gegründet, während die – sozialistisch dominierte – Straßburger Kommunalverwaltung und das dortige Sozialamt die Unterkunft und Verpflegung der "Flüchtlinge" finanzieren.

Eine Entscheidung zugunsten der ungarischen Zigeuner in Straßburg könnte indessen zum Präzedenzfall werden: Die Lage der wachsenden Roma-Minderheiten in Rumänien, der Slowakei oder in Bulgarien ist weitaus trostloser als die in Ungarn, denn die wirtschaftliche Lage dieser Länder ist noch weitaus schlechter. Fluchtgründe ließen sich also sofort finden – speziell in Rumänien. Hier scheint bei den Wahlen im November ein kräftiger Stimmenzuwachs der rechtsnationalen Partei "Romania Mare" von Vadim Tudor nicht ausgeschlossen – Tudor geht schon jetzt mit Anti-Zigeuner-Parolen auf Stimmenfang.


 
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