© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
Spieglein an der Wand
Kino: "Schatten der Wahrheit" von Robert Zemeckis
Claus-M. Wolfschlag

Die Geschichte hinter der Geschichte, das große Thema hinter einem mitreißenden Plot – das ist es, was gutes Kino ausmacht. Der oberflächliche Filmbesucher wird ausreichend unterhalten, derjenige, der sich mit einem Stoff auseinandersetzen möchte, kann allerdings auch in die Tiefe hinabsteigen und die Gedanken kreisen lassen.

Um es vorwegzunehmen: "Schatten der Wahrheit" (der Originaltitel des Films lautet "What Lies Beneath") ist ein anfangs vielversprechender, aber letztlich doch recht konventionell geratener Horror-Thriller. Jedoch schneidet er eine Thematik an, die von unserer bunten Konsumwelt der Strahlemänner nur allzu gerne verdrängt wird – die Frage nach dem Älterwerden und dem Sinn der eigenen sozialen Existenz. Genauer verortet und ausgedrückt: Es geht um die Frau in der midlife-crisis, die langsam bemerkt, daß all der Nippes, den sie um sich herum im Laufe der Jahre gesammelt hat, Leere ausstrahlt, daß ihr die Liebe und das Leben bereits seit einiger Zeit entglitten zu sein scheinen und daß das Dasein zu einer großen Lüge geworden ist. Hinter den Lügen lauern die düsteren "Schatten der Wahrheit" über all die verlorenen Jahre.

Claire Spencer (Michelle Pfeiffer, 43) ist eine Frau in der Mitte ihres Lebens, die auf den ersten Blick alles erreicht hat, was sich viele Frauen wünschen: einen erfolgreichen Mann, eine hübsche Tochter, ein neues großes Haus am Waldesrand und jede Menge Zeit, um sich ihren Hobbys zu widmen. Und sie besitzt immer noch einen Abglanz von der Schönheit ihrer Jugendjahre. Doch hinter der Fassade beginnt es zu bröckeln. Erst ahnt Claire nicht, was mit ihr los ist – diese Leere, diese Unruhe, dieses Mißtrauen, diese Einsamkeit. Ist es nur die Tochter, die erst kürzlich das Haus verlassen hat, um in der Ferne zu studieren? Ist es nur dieses erneute Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein, das wohl zur neuen Lebensphase zwischen Mutter und Großmutter gehört? Langsam nur gelangt Claire zu der Erkenntnis, daß ihr bisheriges Leben von Lügen überschattet ist, die es auf dem Weg zur Wahrheit zu entdecken, "aufzuarbeiten" gilt.

"Schatten der Wahrheit" fügt diesem Prozeß der Selbsterkenntis ein phantastisches Element bei. Ein Geistwesen scheint Kontakt zu Claire aufzunehmen. Die Frau ereilen seltsame Visionen. Sie vernimmt mysteriöse Stimmen, die ihr verraten, daß sie schon weiß, wonach sie fragt: Daß sie weiß, daß die Jahre verflogen sind, daß Jüngere in Konkurrenz zu ihr getreten sind, daß die Ehepartner schon lange nicht mehr wirklich miteinander reden, geschweige denn ehrlich zueinander sind, daß der Mensch auf der anderen Bettseite ein ganz anderer ist, als man all die Jahre annahm? Die Erkenntnis führt nicht direkt zum Licht, sondern zuerst durch die Düsternis. Der Himmel verdunkelt sich im Lauf der Jahreszeiten, die weißen Kleider der Suchenden weichen Grau- und Schwarztönen, die anfangs behaglichen Farben der Räume wirken zunehmend bedrohlich. Und blickt Claire in die vielen Spiegel ihres Hauses, sieht sie nicht nur die älter gewordene Mutter, sondern das Abbild wird zunehmend auch zu einer Pforte der Wahrheit.

Der arbeitswütige Ehemann Normann (Harrison Ford, 58) betrachtet die Bemühungen seiner Frau anfangs als amüsanten Spleen und mit Unverständnis, muß aber durch die starrköpfige Beharrlichkeit seiner Gattin schließlich einsehen, daß es ihr Ernst ist, und daß dieser Ernst auch an seiner eigenen Substanz zu bohren beginnt.

Eine Mischung aus Gruselplot und Behandlung der Thematik "Frauenselbstfindung" also, die Stoff zu ungeahnten Möglichkeiten böte. Und so verharrt der Zuschauer gespannt, um letztlich leider zu der Erkenntnis zu gelangen, daß Erfolgsregisseur Robert Zemeckis ("Forrest Gump", "Zurück in die Zukunft", "Der Tod steht ihr gut") diese gebotenen Chancen nicht ausreichend genutzt hat. Wahrscheinlich war Zemeckis von der Fülle des intellektuellen Potentials der angeschnittenen Thematik schlichtweg überfordert, um ein Meisterwerk schaffen zu können. Heraus kam deshalb ein ausgesprochen professionell und spannend inszenierter Plot, der die Zuschauermassen (in den USA spielte der Film bislang rund 150 Millionen Dollar ein) sicherlich ansprechen wird, aber eine nur unbefriedigende geistige Auseinandersetzung mit dem Hintergrund des Geschehens.


 
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