© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/00 29. September 2000

 
"Es war einer der glücklichsten Tage"
Gerhard Löwenthal über zehn Jahre deutsche Einheit, die heutige Parteienlandschaft, Europa und deutsche Denkmalkultur
Jörg Fischer

Herr Löwenthal, wo waren Sie vor zehn Jahren, als am 3. Oktober 1990 die Einheit Deutschlands gefeiert wurde, und was dachten Sie damals?

Löwenthal: Ich war natürlich in Berlin, und das war einer der glücklichsten Tage in meinem Leben.

Als Leiter des 1969 ins Leben gerufenen ZDF-Magazins waren Sie einer der wichtigsten publizistischen Kämpfer gegen das DDR-Regime und ein Befürworter der deutschen Einheit. Zwei Jahre vor der Maueröffnung, 1987 mußten Sie die Sendung verlassen, drei Monate später wurde die Sendung eingestellt. Warum?

Löwenthal: Die formale Begründung war, daß ich das Pensionsalter erreicht hatte. Meine Erklärung ist: es war Zeitgeisthörigkeit, wir störten die allgemeine Entspannungseuphorie. Wer hat sich damals eigentlich noch permanent um die deutsche Einheit gekümmert – außer dem ZDF-Magazin? Es war für uns schon schwierig genug, immer wieder das Thema zu behandeln, aber wir haben es natürlich konsequent gemacht – zu Recht, wie sich später zeigte.

In Ihrer Sendung brachten Sie "Hilferufe von drüben" und setzten sich für SED-Opfer ein. Inzwischen hat der Bundestag mehrere "SED-Unrechtsbereinigungsgesetze" beschlossen. Was blieb bislang unberücksichtigt?

Löwenthal: Es wird zuwenig über die Opfer geredet und zuviel über die Täter. Auch die Entschädigungsregelung für die Opfer des SED-Terrors ist unzulänglich. Ich habe damals – als ehemaliger Verfolgter des Nazi-Regimes – vorgeschlagen, die Entschädigungsgesetze für die Opfer der Nazi-Diktatur zu nehmen und entsprechend zu novellieren: Für mich kann es keinen Unterschied geben zwischen den Opfern der NS-Diktatur und den Opfern der SED-Diktatur.

Warum wird heute kaum darüber gesprochen, daß sämtliche Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung gegen die Wiedervereinigung waren?

Löwenthal: Friedrich Merz hat kürzlich in seiner Haushaltsrede im Bundestag angesprochen, daß führende SPD-Politiker damals mit der Einheit nichts im Sinn hatten, das war wirklich einmal nötig – vor allem in Hinblick auf die heuchlerischen Aussagen von Finazminister Eichel. Man kann es auch in vielen Büchern nachlesen, etwa bei Konrad Löw und Jens Hacker. Ich halte das für ein Thema, das man immer und immer wieder den Leuten ins Gedächtnis rufen muß.

Zum 3. Oktober wurden die Ex-SED-Politbüro-Mitglieder Günter Schabowski und Günter Kleiber vom Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen begnadigt. Noch viel weitergehende Amnestien sind in der Diskussion – die Verjährung von SED-Untaten droht. Was halten Sie davon?

Löwenthal: Man muß sich jeden Fall einzeln ansehen und entscheiden und keine Kollektivverurteilungen vornehmen. Genausowenig wie es nach 1945 eine Kollektivschuld der Deutschen geben konnte, gibt es heute eine Kollektivschuld aller SED-Mitglieder – viele waren aus Opportunismus dabei. Was den Fall Schabowski betrifft, finde ich, das war richtig. Ich mache immer den Unterschied zwischen den Gewendeten und den Gewandelten. Es gibt zigtausende von Gewendeten und nur wenig Gewandelte. Schabowski gehört zu den Gewandelten. Von einer Generalamnestie halte ich überhaupt nichts, man muß jeden Fall individuell betrachten. Wir reden heute noch über die Untaten des Nationalsozialismus – da kann man nicht nach zehn Jahren aufhören, über die Untaten des Kommunismus zu reden. Die Verjährungsfrist ist für manche Delikte verlängert worden, ich glaube aber nicht, daß irgendeine Neigung besteht, sie nochmals zu verlängern.

Die Putzfrauen, die in der DDR bei der Stasi gearbeitet haben, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt, angeblich 20.000 West-Spitzel der Stasi sind noch unentdeckt. Ist das gerecht?

Löwenthal: Die Amerikaner sind im Besitz der Westagentenkartei der HVA – der Spionageabteilung der Stasi –, und die rot-grüne Bundesregierung versucht jetzt mit allen Mitteln, den Zugang dazu zu verhindern. Sie haben ganz offensichtlich die Befürchtung, daß dort auch namhafte SPD-Spitzenpolitiker drinstehen. Was sich da bei der "Operation Rosenholz" abspielt, ist ein Skandal. Nach langen Verhandlungen mit den Amerikanern ist es nun gelungen, diese Unterlagen wiederzubekommen, und jetzt versucht die Bundesregierung, den Zugang mit ganz fadenscheinigen Ausreden zu verhindern. Übrigens: die niedersächsische CDU-Abgeordnete Silvia Bonitz ist da im Bundestagsinnenausschuß sehr engagiert.

Bundeskanzler Gerhard Schröder war kürzlich auf "Entdeckungstour" in einem ihm unbekannten Landstrich: in Mitteldeutschland. War eine solche "Spezial-Reise" nach zehn Jahren Einheit überhaupt noch angemessen?

Löwenthal: Er hätte es früher machen müssen. Wenn einer erst jetzt entdeckt, daß er eine unerledigte "Chefsache" auf dem Tisch hat, spricht das nicht für eine Qualifikation für den Posten, den er jetzt innehat.

Die Freiheit für alle Deutschen wurde erreicht, die Jugend kann ungeahnte Chancen nutzen, die Rentnergeneration lebt in Sicherheit und Wohlstand. Für die mittleren Jahrgänge sieht es hingegen oft traurig aus, wenn man die Lage nicht mit Budapest oder Warschau, sondern mit Hamburg oder München vergleicht. Viele resignieren: "Zum Arbeiten zu alt, zur Rente zu jung." Warum suchen so viele Wähler "Trost" bei den Neo-Kommunisten?

Löwenthal: Ich glaube nicht, daß sie "Trost" suchen, und ich halte überhaupt nichts von dem Begriff "Neokommunismus". Die PDS hat es verstanden, sich mit dem zu beschäftigen, was die etablierten Parteien versäumten. 1990 dachten die Politiker im Westen, die Einheit sei nur eine wirtschaftliche Frage. Geld war damals reichlich vorhanden, und so glaubte man, den maroden Teil Deutschlands relativ schnell wieder aufbauen zu können. Aber man hat dabei die mentalen und psychologischen Probleme für die Menschen in Mitteldeutschland übersehen: Plötzlich hatte sich alles verändert, der gesamte Lebensablauf, man mußte z.B. jetzt selbst entscheiden. 45 Jahre kommunistischer Diktatur – dazu 12 Jahre NS-Diktatur für die Älteren – gingen nicht spurlos vorüber. Hier hat die PDS ihre Chance gesehen: Wer hat denn Mieterberatung gemacht? CDU oder SPD? Nein! Wer hat die Rentnerberatung gemacht? In diese Lücke ist die PDS gestoßen. Mal ganz abgesehen davon, daß etwa drei Millionen Menschen in der ehemaligen DDR beim Staat beschäftigt waren, daß die sich schwer umorientieren, das ist doch nichts Neues. Hier gab es Versäumnisse der etablierten Parteien, so daß die PDS da bei manchen den Eindruck erweckt hat, sie kümmere sich wirklich um die täglichen Sorgen und Probleme.

Der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider will die FPÖ nach Europa und Deutschland ausdehnen. In einem Interview in der "Welt" vom 22. September erklärte er: "In Wirklichkeit gibt es in Deutschland kein Gegengewicht zur derzeitigen linken Mehrheit. Die CDU ist nicht mehr handlungsfähig. ... Die CSU müßte entweder bundesweit antreten, oder es braucht eine neue Partei wie die FPÖ. Parteien wie die FPÖ in anderen EU-Ländern zu etablieren, will ich auch nicht ausschließen." Umfragen sehen eine deutsche FPÖ bei 15 Prozent. Welche Chance hat diese Idee?

Löwenthal: Unsere Lage ist anders als in Österreich, das läßt sich nicht übertragen. Ich weiß nicht, wie der Haider eine FPÖ in Deutschland machen will. Ich glaube nicht, daß er Erfolg hätte. In Deutschland gibt es – außer in Bayern – zur Zeit keine als konservativ zu bezeichnende Partei. Wenn man heute eine neue Partei gründen will, dann braucht man zwei Dinge: Erstens einen charismatischen Anführer und zweitens Geld. Beides sehe ich zur Zeit nicht. Eine neue konservative Partei hat nur dann eine Chance, wenn genügend Menschen in Deutschland einsehen, daß die CDU im Kern keine konservative Partei mehr ist. Die Parteienlandschaft in Deutschland ist korrekturbedürftig. Aber selbst Franz Josef Strauß hat es nicht geschafft, hier etwas zu ändern. Momentan sehe ich niemanden, der die gleichen Fähigkeiten und das gleiche Charisma hat wie Strauß. Ich sehe nur die Chance, daß die konservativen Kräfte in der CDU sich durchsetzen und die Partei wieder auf den Kurs bringen, den sie früher einmal hatte. Das hat nichts mit "Adenauer-Nostalgie" zu tun, aber das war immerhin eine erfolgreiche Zeit – vielleicht erinnert sich mal der eine oder andere führende CDU-Politiker daran. Das hat auch nichts mit jung oder alt zu tun: Es geht um die Frage der Richtung und der Gesinnung – darüber sollte man mal in der CDU-Spitze nachdenken.

Vor zehn Jahren jubelten die Menschen dem "Einheitskanzler" Helmut Kohl zu. Jetzt ist er in Deutschland eine "Unperson". Im Ausland wird Kohl hingegen gefeiert, und er erhielt kürzlich in Budapest die ungarische Millenniumsmedaillie. Wie sehen Sie den Altkanzler heute?

Löwenthal: Es ist skandalös, wie man mit dem historischen Verdienst von Helmut Kohl umgeht. Ja, er hat bei der Parteifinanzierung nicht zu entschuldigende Fehler gemacht. Das hat aber nichts mit seinen historischen Verdiensten zu tun. Er hat zwar nicht die Einheit Deutschlands herbeigeführt, aber immerhin hat er, als die historische Situation kam, die Chance ergriffen und das Richtige getan. Die Sowjetarmee ist aus Mitteleuropa verschwunden – das darf man nicht vergessen. Wer diese Verdienste von Kohl nicht würdigt, der ist im Grunde ein charakterloser Schurke. Man muß klar unterscheiden: Hier ist der große Staatsmann, dort der Parteiführer, der gravierende Fehler begangen hat, die jetzt geahndet werden müssen.

Derzeit gibt es in Deutschland eine "Kampagne gegen Rechts" – womit in der linksliberalen Presse nicht nur Skinheads und die NPD, sondern auch Nationalliberale und Konservative gemeint sind. Selbst manche Unionspolitiker werden inzwischen dazu gezählt, die Wiener ÖVP/FPÖ-Koalition wird – trotz "Weisen"-Bericht – weiter verunglimpft. Andererseits regieren in Mecklenburg PDS-Minister, in Italien stützen Stalinisten die Regierung und in Belgien gibt es ein "Buntes Bündnis" von Christdemokraten bis zu Linkssozialisten bei den Kommunalwahlen. Konnten Sie sich vor zehn Jahren eine solche Entwicklung vorstellen?

Löwenthal: Alles, was nicht links ist, war aus Sicht der radikalen Linken schon immer rechtsradikal. Wer sich nicht zu Links bekannte, der kam auf eine "Liste", da wurden Bücher geschrieben usw. Wenn Bücher gegen "Rechts" erschienen waren, und ich kam darin nicht vor, habe ich mich gefragt, was habe ich falsch gemacht? Das ist nichts neues. Dieser falsche Antifaschismus, diese verkommene Antifaschismus-Ideologie, die uns da übergestülpt werden soll, das ist natürlich alles Unfug. Der "Kampf gegen Rechts" ist nicht neu – man wollte wohl das Sommerloch füllen. Ja, alle Gewalttaten sind bedauerlich und abzulehnen – Gewalt hat in der politischen Auseinandersetzung nichts zu suchen. Gewalt gegen Andersdenkende, gegen Andersfarbige oder Andersrassige darf es nicht geben! Und die, die sich an Gewalttaten beteiligen, müssen dafür bestraft werden! Aber als in der ARD-Tagesschau plötzlich über "Nazi-Terror in Deutschland" gesprochen wurde, habe ich meine Frau gefragt: In welchem Land leben wir eigentlich? Man darf nicht in eine Massenhysterie verfallen und so tun, als stehen wir hier vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Als ehemals verfolgter Jude fasse ich mich an den Kopf, wenn ich sehe, was hier für ein Blödsinn verzapft wird. Das ist ja eine Beleidigung der Opfer von damals. Wenn man das, was damals geschehen ist, mit dem vergleicht, was heute hier passiert, dann ist alles total übertrieben worden und es geschieht, um den politisch Andersdenkenden zu verunglimpfen. Das ist der Hintergrund. Jede Art von Fremdenfeindlichkeit muß bekämpft werden. Aber: In Deutschland finden Sie in jeder Stadt alle 500 Meter irgendeine italienische, griechische oder türkische Kneipe, wir leben seit Jahrzehnten mit Hundertausenden von Ausländern friedlich zusammen – es gibt im Grunde ein völlig normales Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern.

Doch der "Kampf gegen Rechts" wird inzwischen europaweit geführt, etwa auch gegen die Wiener Regierung ...

Löwenthal: Die Sanktionen gegen Österreich waren doch im wesentlichen eine Idee der "Sozialistischen Internationale". Die Aktion ist eine der schändlichsten Fehlaktivitäten, die sich die EU jemals geleistet hat. Es ist für mich völlig unbegreiflich, daß da keine Staatsmänner aufgetreten sind, die gesagt haben, nun ist aber mal Schluß mit dieser Zeitgeisthörigkeit, mit dieser "political correctness". Man kann ja über Haider manches sagen, aber immerhin ist er von über 27 Prozent der Österreicher gewählt worden. Man darf nicht ein ganzes Land auf die Anklagebank setzen.

Um der Reichstagsinschrift "Dem Deutschen Volke" etwas entgegen zu setzen, hat der Bundestag kürzlich ein Kunstwerk für die "Bevölkerung" eingeweiht. Was halten Sie davon?

Löwenthal: Der Schwachsinn kennt keine Grenzen.

In der Mitte Berlins soll jetzt ein HolocaustMahnmal entstehen. Wie denken Sie darüber?

Löwenthal: Ich halte diese ganze Gedenkstättendiskussion für völlig überflüssig. Die Juden ehren ihre Toten auf dem Friedhof. Und es gibt etwa in Berlin auf dem Jüdischen Friedhof an der Heerstraße einen extra abgegrenzten Teil. Da wird derjenigen gedacht, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind, darunter ist auch eine Gedenktafel meinen Großeltern. Das ist der Ort, wo wir hingehen, wenn wir unserer Toten gedenken, dazu brauche ich nicht irgendwo mitten in der Stadt irgendeine Gedenkstätte. Die ganze Diskussion ekelt mich an.

 

Gerhard Löwenthal geboren 1922 in Berlin, war von November 1945 bis 1953 Reporter und stellvertretender Programmdirektor beim "Rundfunk im amerikanischen Sektor" (RIAS Berlin). Von 1954 bis 1957 arbeitete er als stellvertretender Programmdirektor beim Sender Freies Berlin (SFB). Von Juni 1959 bis August 1963 war er Hauptabteilungsleiter für Wissenschaftliche Information bei der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Von 1963 bis 1968 war er ZDF-Europa-Korrespondent und Studioleiter in Brüssel, bis er im September 1968 Leitung und Moderation des ZDF-Magazins übernahm. Seit seinem Ausscheiden im Januar 1988 ist er freiberuflicher Journalist und Schriftsteller. 1978 erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Band, 1992 das Bundesverdienstkreuz 1.Klasse.

Veröffentlichungen: "Ich bin geblieben – Autobiographie" (1987); "Feind-Organisation Hilferufe von drüben" (mit H. Kamphausen/C.P. Clausen, 1993)

 

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