© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Wann das Volk entscheidet
von Heinrich Lummer

Ob vom Volksentscheid oder der plebiszitären Komponente die Rede ist oder gar vom Populismus – der Wortstamm ist jeweils gleich. Es geht um das Volk, seine Rechte und seine Wertschätzung. Und da erleben wir – wie so oft in diesen Zeitläufen – eine merkwürdig widersprüchliche Situation. Gerade diejenigen, die sich immer wieder, wenn auch nicht immer nachhaltig, um eine Verstärkung der plebiszitären Komponente in unserer politischen Ordnung bemühen, sind schnell mit dem Vorwurf des Populismus zur Hand, wenn sich jemand bemüht, dem Volk aufs Maul zu schauen und die Politik gemäß den Wünschen des Volkes zu gestalten. Anders ausgedrückt: Diejenigen, die für die Einführung von plebiszitären Komponenten plädieren, sind nicht immer diejenigen, die des Volkes Wille möglichst konsequent umsetzen wollen. Es bleibt in jedem Falle widersprüchlich, wenn in einem Staat, der sich der Demokratie, also der Volksherrschaft verpflichtet weiß, der Populismus zum massiven Vorwurf wird.

Rechtlich gibt es an der Souveränität des Volkes nichts zu zweifeln und zu deuten. Souverän ist das Volk und nicht Parteien und Koalition. Deshalb kann die Verwirklichung des Volkswillens im Sinne eines wohlverstandenen Populismus prinzipiell nicht verwerflich sein. Den Willen des Volkes einigermaßen genau zu erkennen, bedarf es heute keiner großen Mühen. Das System der Meinungsbefragung ist solide ausgebaut und im großen und ganzen verläßlich. So verläßlich, daß es der staatlich organisierten Volksbefragungen und Volksentscheide gar nicht bedürfte.

Hätte man dieses Instrument bei den Fragen der Einführung des Euro, der doppelten Staatsangehörigkeit oder der Beseitigung des individuellen Asylrechts benutzt, dann hätten wir eindeutig andere Verhältnisse im Lande. Hinter der Ablehnung des sogenannten Populismus verbirgt sich eine tiefe Skepsis gegenüber dem Souverän. Man prügelt die Populisten – ob sie Haider, Strauß oder anders heißen – und meint das Volk. Man hält es für dumm nach dem Motto: Vox populi – vox Rindvieh. Aber unbeschadet dieser vordergründigen Ablehnung des Volkswillens gibt es in der Tat gute Gründe, die Ausdehnung der plebiszitären Elemente kritisch zu sehen. Dabei muß man sich allerdings von dem Grundsatz leiten lassen: Soviel Plebiszität wie möglich. Denn – wie gesagt – das Volk ist der Souverän.

Welche plausiblen Grenzen gibt es nun? Zunächst gibt es in Deutschland die Erfahrung der gebrannten Kinder. In der Weimarer Verfassung gab es die Volksabstimmung. Sie wurde von den Radikalen in Anspruch genommen. Und in der Tat liegt es nahe, die Fragestellung bei Volksabstimmungen radikal vereinfachend zuzuspitzen. Es kann zu einer hochgradigen Emotionalisierung kommen, die einer jakobinischen Demokratieauffassung entgegenkommen mag. Danach regiert die Mehrheit nach Gutdünken. Die Minderheiten bleiben auf der Strecke. Wer nicht nur die radikale Herrschaft der (möglicherweise knappen) Mehrheit will, sondern die Berücksichtigung auch der Minderheiten, der braucht den Kompromiß. Dieser aber geht bei Volksentscheidungen leicht vor die Hunde. Michael Stürmer meinte jüngst dazu: "Volksbegehren und Volksentscheid erwiesen sich als Einbruchstelle für die Feinde der Republik."

Hinzu kommt als entscheidender Faktor, der den Plebisziten Grenzen setzt, die heutige hochgradige Komplexität vieler politischer Entscheidungen, die es dem einzelnen unmöglich macht, zu allen politisch relevanten Fragen eine sachlich fundierte Meinung bilden zu können. Insofern fehlt es generell an der notwendigen Voraussetzung für einen Volksentscheid: der ausreichenden Sachinformation. Damit wird das Volk nicht für dumm verkauft und auch dem Bild vom mündigen Bürger nicht widersprochen. Die Ausweitung der Staatsaufgaben in den letzten 150 Jahren hat dazu geführt, daß wir faktisch in einem System leben, das man auch Expertokratie nennen könnte. Auch der Bundestagsabgeordnete als Berufspolitiker muß sich diesem Sachverhalt unterwerfen. Auch er ist nicht in der Lage, über alle im Bundestag anstehenden Sachfragen sachgerecht zu entscheiden. Umfassende Kenntnisse in der Renten-, Verteidigungs-, Umwelt-, Außenpolitik und weiteren Politikbereichen überfordern jeden normalen Abgeordneten. Auch Genies sind in der Regel Spezialisten. Insofern muß sich der Abgeordnete oft genug auf das Votum der Experten in den Fraktionen verlassen. Auch dem Bürger ist dies im eigenen Interesse abzuverlangen. Gerade wegen der Komplexität der Sachverhalte lassen sich einfache für einen Volksentscheid geeignete Fragestellungen nicht formulieren. Deshalb behilft man sich da und dort. In Italien kann man per Volksentscheid Gesetze abschaffen, aber keine neuen einführen. In Schweden gibt es sogenannte "Rat gebende" Referenden. Das Volk kann seine Meinung in Umrissen äußern. Die Entscheidung liegt schließlich beim Reichstag. In Spanien können staatstragende Entscheidungen per Volksentscheid beantwortet werden. Der König ist der formale Initiator. Es kam in den letzten Jahren zu mehreren solcher Entscheidungen: Bei der Ratifizierung des Gesetzes zur Reform des politischen Systems 1976, 1978 bei der Annahme der Verfassung und 1986 beim Verbleib Spaniens in der NATO.

Immer bleiben Einschränkungen des Souveräns. Ein Regieren per Volksentscheid, das eine jederzeitige Entscheidung zu jedwedem Thema ermöglichte gibt es nicht. Wer es verspricht, meint es nicht gut mit dem Volk.

Wir sollten uns die Frage stellen, wie eine Verstärkung der plebiszitären Komponente aussehen kann. Dabei muß man sich von dem schon erwähnten Grundsatz leiten lassen: Soviel Berücksichtigung des erkennbaren Volkswillens wie möglich. Nur dort, wo der momentane Wille des Volkes sich zu seinem eigenen Schaden entwickeln würde, müssen Parlamente und Regierung in repräsentativer Gesamtverantwortung anders entscheiden.

Wenn das Verhalten der jeweiligen Regierung eine mangelnde Berücksichtigung des Volkswillens in Einzelfragen erkennbar werden läßt, legitimieren sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität durchaus Instrumente, die geeignet sein können, der Regierung auf die Sprünge zu helfen oder anstehende Wahlen zu beeinflussen. Das kann in der Form von Bürgerinitiativen geschehen, die prinzipiell nicht geeignet sind, Parteien zu ersetzen. Das kann aber auch durch Anzeigenkampagnen, Unterschriften- und Postkartenaktionen geschehen. Derartige Instrumente sind nicht per se verwerflich, sondern vertretbarer Teil der politischen Auseinandersetzung. Der meistgehörte Vorwurf gegen solche Aktionen ist der des Populismus. Und das eben ist kein Vorwurf, sondern genau genommen die Rechtfertigung dieser Aktionen. Man will des Volkes Willen erfahren, um ihn zu berücksichtigen. Ein Lump, wer schlechtes dabei denkt. So gesehen ist weder gegen die Aktion der hessischen CDU zur doppelten Staatsangehörigkeit noch gegen die der CDU in Nordrhein-Westfalen in Sachen "Kinder statt Inder" etwas einzuwenden. Leider hat die CDU in Nordrhein-Westfalen diese Kampagne in der Praxis nicht durchgeführt, weil sie sich ins Bockshorn jagen ließ. Die in solchen Aktionen sichtbar werdende Kampagnefähigkeit ist auch geeignet, die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien transparent zu machen.

Ein wesentlicher Teil der Problematik entsteht durch die Tatsache, daß die Parteien das Monopol der Kandidatenaufstellung und Ämterbesetzung besitzen, während nur ein Bruchteil der Bevölkerung in Parteien organisiert ist und daran mitwirken kann. Deshalb sind immer wieder Vorstellungen entwickelt worden, den Einfluß der nicht parteigebundenen Bürger zu verstärken. Der erste Schritt, der in manchen Bereichen praktiziert wird, ist die Aufstellung der Kandidaten durch alle Mitglieder der Partei und nicht nur durch vorher in den Unterorganisationen ausgewählte Delegierte. Dies führt zweifellos zu einer Mobilisierung. Denn jeder Kandidat wird versuchen, seine Anhänger zu mobilisieren und gegebenenfalls kostenlos (und mit Freibier) zum Wahllokal zu bringen. Aber dieses Verfahren, das keineswegs qualifizierte Kandidaten hervorbringen muß, betrifft nur die Mitglieder der Parteien.

Nun hat es seit langem Versuche gegeben, die Wähler schlechthin an der Kandidatenaufstellung zu beteiligen. In einigen österreichischen Bundesländern ist das zur Zufriedenheit aller Beteiligten praktiziert worden. Franz Müntefering und Christan Wulff haben nun ein solches Verfahren propagiert, das den amerikanischen Vorwahlen entsprechen soll. Ob das ein jeweiliger Scheinbeitrag zu einer Scheinerneuerung des Parteiensystems sein soll, sei dahingestellt. Unausgegoren ist es allemal. Eine absolute Offenheit dergestalt, daß jeweils alle Bürger an der Aufstellung des Kanzlerkandidaten einer Partei beteiligt sein können, kann es sinnvollerweise nicht geben. Dann könnten schließlich SPD-Wähler den CDU-Kandidaten – welchen wohl? – bestimmen. Und umgekehrt. Also müßte vorher eine von der Parteimitgliedschaft unabhängige Registrierung der Wähler im Sinne einer zeitlich begrenzten Mitgliedschaft, die zur Kandidatenaufstellung legitimiert, gefunden werden. Ob dazu die Bürger bereit sein werden, ist fraglich. Ob dieses sinnvoll ist ohne die Direktwahl des Kanzlers durch das Volk, bleibt problematisch.

Die Direktwahl des Kanzlers (und der Länder-Ministerpräsidenten) ist problematisch, wenn nicht unser ganzes System geändert wird. Wie zum Beispiel könnte ein vom Volk direkt gewählter Kanzler vom Parlament, das natürlich auch vom Volk gewählt wurde, abgewählt werden? Hinzu käme bei Direktwahlen des Parlaments und des Regierungschefs das Problem einer doppelten Legitimation. Parlamentsmehrheit und Kanzler könten sich jeweils auf die Legitimation durch das Volk berufen. Der Konflikt wäre vorprogrammiert. Manche befürchten für diesen Fall eine Entmachtung des Parlaments. In Weimar hatten wir das. Die Erfahrungen waren nicht die besten.

In den USA und in Deutschland auf kommunaler Ebene kennen wir diesen Sachverhalt, daß direkt gewählte Präsidenten oder Bürgermeister mit anderen parteipolitischen Mehrheiten in den jeweiligen Parlamentarischen Versammlungen fertigwerden müssen. Das ist nicht immer segensreich. Auf deutscher Bundesebene würde ein solcher Fall zusätzlich durch die Kompetenzen der Länderebene kompliziert. Man stelle sich vor: Eine Länderkammer mit CDU-Mehrheit, einen Kanzler der SPD und einen Bundestag mit Mehrheiten von SPD und Grünen oder CDU und FDP. Änderungen der Kompetenzabgrenzung und des Parteiensystems wären notwendige Voraussetzungen für eine solche Konstruktion. Denn letztlich bleibt die Funktionsfähigkeit eines Systems und seine Stabilität eine wesentliche Größe.

Auch das Wahlrecht bietet Möglichkeiten, den Einfluß der Wähler zu verstärken. Dafür bieten sich die Instrumente des Kumulierens und Panaschierend an, wie sie in einigen Bundesländern für die Kommunalwahlen bereits bestehen. Unter Kumulieren versteht man die Möglichkeit für den Wähler, in Mehrheitswahlkreisen, wo er so viele Stimmen hat wie Mandate zu vergeben sind, seine Stimmen für einen oder mehrere Kandidaten abzugeben. Mit dieser Kumulation kann er die Reihenfolge der Listenkandidaten verändern und wirkt somit an der Kandidatenplazierung möglicherweise abweichend von der Aufstellung durch die Partei mit.

Das Panaschieren bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Stimmen auf Kandidaten verschiedener Parteien zu verteilen. Diese Mittel komplizieren zwar das Wahlrecht, aber sie geben dem Wähler einen größeren Einfluß.

So sehr die Komplexität der Sachfragen eine generelle Gesetzgebung durch Volksentscheid verbietet, bietet sich doch die Möglichkeit – wie in einigen Ländern praktiziert – der Ablehnung von Gesetzen durch Volksentscheide. Dies zwingt die Parlamente, erneut über die Probleme nachzudenken und bessere Gesetze zu machen.

Die erwähnte enorme Komplexität der Sachfragen und Sachverhalte, die einen Verzicht auf Gesetzgebung durch Volksentscheid auf nationaler Ebene gebietet, legt wiederum nahe, dort Rechtssetzung durch Volksentscheide zu gestatten, wo die Sachverhalte überschaubar und verstehbar sind. Dies gilt in der Regel für den kommunalen Bereich. Hier also erscheint eine Einführung oder Verstärkung der plebiszitären Komponente durchaus angebracht.

Die Erfahrungen der Weimarer Zeit und erst recht die politische Verblendung der Jahre 1933 bis 1945 schien Vorsicht gegenüber plebiszitären Instrumenten zu gebieten. Auch frühere, geschichtliche Erfahrungen mit Volksentscheiden, beispielsweise das berühmte Scherbengericht der Athener Demokratie, waren nicht gerade ermutigend. In jüngster Zeit haben beispielsweise Meinungsumfragen über die Todesstrafe gezeigt, wie wankelmütig Volksmeinung sein kann. Diese erkennbare Wankelmütigkeit könnte zu häufig wechselndenGesetzen mit der entsprechenden Verunsicherung führen. Dem könnte man allerdings dadurch begegnen, daß in der gleichen Sache erst nach Ablauf bestimmter Fristen erneut abgestimmt werden darf.

Nach dem Kriege mißtraute man der politischen Reife der Deutschen in besonderem Maße. Das Grundgesetz gibt daher fast immer der mittelbaren Demokratie den Vorzug; es kennt eine unmittelbare Entscheidung des Volkes nur bei der Neugliederung des Bundesgebiets und bei Entscheidungen auf Gemeindeebene. Die wenig später in Kraft gesetzte Berliner Verfassung ging etwas weiter und sah die Möglichkeit vor, das Parlament durch Volksentscheid aufzulösen, sowie Gesetze durch Volksentscheid zu erlassen. Auch in einigen anderen Bundesländern enthalten die Verfassungen plebiszitäre Elemente.

Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Je länger die Wahlperioden sind, desto eher besteht die Gefahr, daß sich Volksmeinung und Machtausübung durch die Gewählten nicht mehr decken, daß also nur noch eine formelle Legitimation besteht, die materielle Legitimation der Willensübereinstimmung zwischen Wähler und Mandatsträger jedoch verlorengeht. Dies kann in Ausnahmesituationen für kurze Zeit sogar von Nutzen sein, etwa beim Ausbruch von Massenhysterie. Auf Dauer wäre dies jedoch für jedes Gemeinwesen tödlich. Deshalb ist es von großem Nutzen, wenn die Verfassung Instrumente enthält, die die Übereinstimmung zwischen dem Volkswillen und dem Handeln der Staatsorgane wiederherstellen. Der Souverän muß auch die Möglichkeit haben, die Herrschaft auf Zeit abzukürzen. Dies gilt insbesondere in einer Zeit, da die Legislaturperioden in den Bundesländern auf fünf Jahre verlängert worden sind. Diese Verlängerung soll der soliden stabilisierenden Arbeit der Regierungen und Fraktionen dienen, die durch ständige Wahlkampfsituationen beeinträchtigt wird.

Die entscheidenden Gefahren des plebiszitären Elements kommen dann zur Geltung, wenn wichtige Einzelfragen einer Volksabstimmung unterworfen werden. Die Verkürzung auf ein Ja oder Nein, die Emotionalisierung, die mangelnde Sachgerechtigkeit unter anderem Probleme machen das Institut der Volksentscheidung nicht nur problematisch, sondern zu einem untauglichen Mittel, in einer Massendemokratie zu regieren.

Dennoch scheint an einer Stelle eine Verstärkung der plebiszitären Komponente nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll. Die Kritik setzt nicht zuletzt dort an, wo Demokratie als "Herrschaft auf Zeit" definiert wird. Der Bürger sieht sich in seinem Recht beschränkt, wenn er nur alle vier oder fünf Jahre zu einer Entscheidung aufgerufen wird. Diesem Mangel kann man jedoch nicht dadurch begegnen, daß die Bürger nun das Recht erhalten sollen, jederzeit über jede Einzelfrage entscheiden zu können, weil damit der Weg in die Unregierbarkeit vorgezeichnet wäre.

Die Lösung bietet sich insofern an, als man dem Souverän die Möglichkeit gibt, durch Volksentscheid eine Verkürzung der Legislaturperiode herbeizuführen. Damit könnte dem Grundgedanken des Plebiszits stärker Rechnung getragen werden, ohne den Gefahren der Entscheidung in Einzelfragen ausgeliefert zu sein, denn die gegebenenfalls durch Volksentscheid erzwungene Neuwahl des Parlaments zwingt zu einer Entscheidung über Parteien und damit über ein Gesamtprogramm. Diese Entscheidung setzt die Beurteilung und Würdigung vieler Einzelfragen voraus und zwingt insofern zu Abwägung und Diskussion.

Diesen Weg ist beispielsweise das Berliner Parlament gegangen. Es hat damit den politischen Wechsel des Jahres 1981 vorzeitig ermöglicht. Dieser Weg einer Auflösung des Parlaments durch Volksentscheid ist auch in einer modernen Demokratie auf nationaler Ebene praktikabel und wünschenswert. Er konfrontiert den Bürger nicht mit komplizierten Fragen, bei deren Entscheidung er sich überfordert fühlt und im Hinblick auf die Komplexität und Kompliziertheit moderner Gesetzgebung auch überfordert ist. Der Volksentscheid, der vorzeitige Neuwahlen zum Ziel hat, vermeidet die Nachteile der Einzelentscheidung in Sachfragen und gewährleistet eine Verstärkung der plebiszitären Komponente in unserer Verfassungswirklichkeit. Denn bei vorgezogenen Neuwahlen steht nicht eine einzelne Frage zur Diskussion, die sehr wohl geeignet sein kann, schwerwiegende Fehlentscheidungen aufgrund großer Emotionen zu bewirken. Vielmehr stellen sich Parteien zur Wahl, die ein Gesamtprogramm vorlegen müssen. Ohne den repräsentativen Charakter der Verfassung zu ändern, wird ein Stück mehr – direkter – Demokratie gewagt. Damit wird auch jener sogenannten Mandat-Theorie stärker Rechnung getragen, die davon ausgeht, daß unbeschadet der vorgesehenen Legislaturperiode das politische Mandat einer Partei oder eines Parlaments verlorengehen kann. Sei es, daß neue, beim vorhergehenden Wahlkampf noch nicht bekannte, wichtige Fragen auftauchen, sei es, daß eine Regierung das Vertrauen der Wähler offenkundig verliert.

Die Erfahrungen in Berlin hatten in den siebziger Jahren gezeigt, daß sich eine Entfremdung zwischen Wähler und Amtsträger, aber auch schon zwischen Wähler und Mandatsträger, ergeben hatte. Es war Aufgabe der politisch Verantwortlichen, die Klüfte, die sich zwischen dem Volk und seinem Staat auftun, zu überbrücken. Hierbei leistet der Volksentscheid zur Auflösung des Parlaments, d. h. zur Erzwingung von Neuwahlen eine ganz wesentliche Hilfe. Er kann die Kräfte der Ablehnung und des Protestes kanalisieren und sie den verfassungsmäßigen Entscheidungsmechanismen zuführen. Dies ist ein entscheidender Beitrag zur Befriedigung eines Gemeinwesens und zur Verwirklichung der Volkssouveränität. Dies ist in Berlin 1980/81 erfolgreich praktiziert worden Unter dem Druck der Unterschriftensammlung zur Einleitung des Volksentscheids löste sich 1981 das Parlament selbst auf. Die Neuwahlen führten zu einem Regierungswechsel.

 

Heinrich Lummer war CDU-Innensenator und Bürgermeister von Berlin und von 1987 bis 1998 Bundestagsabgeordneter.


 
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