© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Leistungsanreize
Karl Heinzen

Annähernd die Hälfte der Menschheit muß, so der jüngste Entwicklungsbericht der Weltbank, mit weniger als zwei US-Dollar pro Kopf und Tag auskommen. 1,2 Milliarden Menschen verfügen sogar nur über weniger als die Hälfte dieses Betrages. Die Globalisierung mag den Gewinnern im Weltverteilungskampf daher zwar eine Erhöhung ihres Lebensstandards bescheren, konfrontiert sie aber zugleich mit unappetitlichen Daten, für die sich leider niemand mehr unzuständig erklären kann: Da man fatalerweise eingeräumt hat, daß alle im gleichen Boot sitzen, wird einem zum Dank nun die ganze soziale Erfolgsbilanz des Kapitalismus kaputtgerechnet.

Die reichen Nationen sind nicht zu beneiden. So wie die Klassenherrschaft in ihrem Inneren zwar verschleiert, aber nicht aufgehoben werden darf, um den Armen eine soziale Orientierung nach oben zu ermöglichen, so muß auch an der internationalen Wohlstandsverteilung festgehalten werden, um für die Erfolglosen wenigstens Leistungsanreize zu schaffen. Gleichmacherei nimmt den Reichen mehr, als den Armen gegeben wird. Solch eine Verschwendung sollten wir uns im Angesicht einer derart rasant wachsenden Weltbevölkerung und eines kaum weniger rasant schrumpfenden Bestandes an natürlichen Ressourcen eigentlich nicht leisten. Es ist unsozial, denen Eigentum zu nehmen, die historisch bewiesen haben, daß sie damit investiv umgehen können, um es dann ausgerechnet jenen zu geben, die schon mit dem, was sie bislang hatten, kein Wachstum zu erzielen vermochten.

Immerhin sind aber die Zeiten ideologischer Verblendung vorbei: Das Ende des Kommunismus hat geholfen, die räumliche Trennung von arm und reich in Europa zu überwinden. Die Transformation einstiger Zentralverwaltungswirtschaften in Marktökonomien hat viele Staaten in Zentral- und Osteuropa in die Reihen der Entwicklungsländer geführt. Das Ende des ideologischen Zeitalters nimmt der Völkergemeinschaft allerdings auch die Möglichkeit, die Armen mit der Suche nach Systemalternativen zu beschäftigen. Verteilungskämpfe müssen aber nicht allein deswegen weniger grausam sein, weil sie ohne den Anspruch geführt werden, eine bessere Perspektive für die Menschheit schaffen zu wollen.

Die Sorgen der Weltbank sind also nachvollziehbar, und ihr Rat verdient Gehör: Die Armen sollen eine bessere Ausbildung erhalten, um in einem stabileren Umfeld effektiver arbeiten und damit mehr Wachstum erzielen zu können. Krankheiten, Wirtschaftsschocks, Arbeitslosigkeit, Mißernten, Natur-katastrophen und Gewalt sollen nicht länger als Drohungen empfunden werden, unter denen ihr Leben steht. Es mag dann zwar sein, daß sie darüber weiterhin arm bleiben. Als mündige Menschen wären sie aber immerhin in die Lage versetzt, sich politisch eher Gehör zu verschaffen. Die demokratische Ordnung wäre mit Leben erfüllt, ohne ihre eigentliche Aufgabe, die Absicherung der bestehenden Eigentumsverhältnisse, zu verfehlen.


 
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