© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Rückkehr der Blockwarte
Die politischen Verhältnisse in Deutschland nähern sich einer "DDR light" an
Günter Zehm

Vor einer "DDR light", die man nun in ganz Deutschland bekommen werde, warnten bei der Wiedervereinigung einige besorgte Zeitgenossen. Was damals hypochondrisch klang, entpuppt sich zehn Jahre danach als ziemlich zutreffende Langzeitprognose. Die Rhetorik der derzeitigen Berliner Regierung unterscheidet sich immer weniger von der des letzten SED-Zentralkomitees, und auch der von Schröder und Fischer beschworene "Schulterschluß aller demokratischen Kräfte gegen Rechts" weist verzweifelte Ähnlichkeit mit der Honeckerschen Antifa-Propaganda von vor 1989 auf.

Angeblich geht es nur gegen einige Skinheads, die sich mit Ausländern herumprügeln, aber in Wirklichkeit zielt man auf alles, was sich rechts von Merkel und Merz politisch artikulieren will. Die Begriffe werden, genau wie unter Honecker, absichtlich unklar gehalten, um die "Repressionen", die der Kanzler bei jeder Gelegenheit beschwört, gegebenenfalls auf alle möglichen Politikfelder ausdehnen zu können.

Bereits jetzt weiß niemand mehr genau, was alles in diesem Land verboten und unter Strafe gestellt ist, welche Symbole, welche Gesten, welche Vokabeln, welche politischen Thesen. Wer zum Beispiel die Abkehr vom Euro und die Rückkehr zur D-Mark fordert, steht offenbar schon mit einem Bein im Gefängnis, desgleichen wer gegen unbeschränkten Ausländerzuzug ist oder irgendwelche "europäischen Werte" verspottet, wer sich Platten etwa der Rockgruppe Death in June anhört oder sogenannte Bomberjacken trägt.

Vor allem in Brandenburg führen sie wieder einen Dauerkrieg gegen die eigene Jugend wie in schlimmsten DDR-Zeiten. Jeder Jugendtreff ist mit Polizei umstellt, jedes Popkonzert wird vor Beginn vom "Staatsschutz" nach klingender Konterbande abgesucht und schärfstens zensiert. Es setzt wahllos Festnahmen und Hausdurchsuchungen, die Zahl der gemeldeten "Propagandadelikte" geht in die Zehntausende. Unter dem Slogan "Zeigt Zivilcourage!" wird völlig ungeniert zu schnödesten Bespitzelungen und Angebereien aufgerufen, das Geschäft der Blockwarte blüht und gedeiht.

Freilich gibt es, ebenfalls wie zu DDR-Zeiten, im Volk beträchtliche Widerstände. Damals billigte die Mehrheit das Herumgrölen und die Raufereien jugendlicher Bomberjacken keineswegs, doch noch weniger gefielen ihr die Reden der Parteibonzen und das Gekeife der gleichgeschalteten Medien. Man wußte, daß man nichts dagegen machen konnte, und wandte sich schweigend ab. Heute ist es kaum anders.

Oft wird von Publizisten aus der alten Bundesrepublik behauptet, die Bewohner der DDR hätten unter dem Propagandagetöse des SED-Regimes ein gut Teil ihrer politischen Urteilskraft eingebüßt, es fehle ihnen im Gegensatz zu den "alten" Bundesbürgern noch immer an freiem Bürgersinn. Eher das Gegenteil ist richtig. Weil die DDR-Bewohner unter der Diktatur sehr genau lernen mußten, zwischen Anpassung und freiem Willen zu unterscheiden, besitzen sie nun auch unter den neuen Bedingungen den unverändert scharfen Blick für politisches Konjunkturrittertum sowie für Existenzen, denen man geistig das Rückgrat gebrochen hat. Sie sehen viel genauer hin als der typische Wessi.

Deshalb wissen sie inzwischen auch, daß der verstorbene Johannes Gross nur allzu recht hatte, als er schrieb: "Die Westdeutschen benehmen sich auch heute noch, fünfzig Jahre nach dem Krieg, wie resozialisierte Schwerverbrecher." Will sagen: diese Westdeutschen sind zutiefst eingeschüchtert und zu einem wirklich aufrechten Gang gar nicht mehr in der Lage.

Der durchschnittliche Erfolgsbürger in Düsseldorf oder Hinterhupfingen hält sich für überaus aufgeklärt und weltläufig, aber sein weniger erfolgsverwöhntes Pendant in Dresden oder Kyritz an der Knatter sieht sofort: "Die kriechen doch vor den Amerikanern und den Kapitalisten genauso, wie wir vor den Russen und den Bolschewisten kriechen mußten. Denen wird doch alles vorgeschrieben. Die kommen doch gar nicht mehr zum eigenen Nachdenken."

Vieles von dem, was typische Wessis für selbstverständlich halten, hält der gelernte Ossi keineswegs für selbstverständlich, sondern für höchst befragungsbedürftig. Er hat gelernt, Politiker-, Zeitungs- und Fernsehphrasen sorgfältig von der Wirklichkeit zu unterscheiden, und er hat gelernt zu vergleichen. Wenn er in den vierzig Jahren Diktatur plus Westfernsehen überhaupt etwas gelernt hat, so ist es das Vergleichen- und Abwägenkönnen. So manches, was ihm jetzt in Sachen "Kampf gegen Rechts" tagtäglich begegnet, kommt ihm bekannt vor, und er denkt nicht daran, freiwillig die ihm zugemutete Blockwart- und Denunziantenrolle zu übernehmen. Einmal IM gewesen sein genügt.

Wenn es heute gebietsweise in Deutschland tatsächlich so etwas gibt wie eine "DDR light", so liegt das am wenigsten an den ehemaligen DDR-Bewohnern. Die haben ihre diesbezügliche Lektion gelernt. Der politischen Klasse in Berlin, jener Melange aus westlichen Alt-68ern und östlichen Spitzel-Altkadern à la Stolpe, steht die Lektion noch bevor.


 
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