© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000


Europäische Wendehälse
von Carl Gustaf Ströhm

Wendehälse nannte man einst jene Bewohner der DDR (meist handelte es sich um wohlbestallte rote Funktionäre), die nach dem Fall der Berliner Mauer plötzlich ihr demokratisches und gesamtdeutsches Gewissen entdeckten. Heute könnte man jene Politiker und Publizisten als "Wendehälse" bezeichnen, die zuerst die Sanktionen gegen Österreich lauthals begrüßten – und die jetzt, nach Beendigung des Boykotts gegen Österreich, plötzlich zu verstehen geben, sie seien ja eigentlich auch schon immer dagegen gewesen, demokratische Wahlergebnisse vom Ausland her und dazu noch durch Zwangsmaßnahmen zu "korrigieren".

Vielleicht hat sich zumindest bei einigen Eiferern die Erkenntnis durchgesetzt, daß die plötzlich ausbrechende anti-österreichische Hysterie maßlos übertrieben war und weitgehend jeder sachlichen Grundlage entbehrte. Manche kleine Länder – darunter auch einige der hoffnungsvollen Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa sahen voller Schrecken, daß ihnen morgen das blühen könnte, was heute den Österreichern zugefügt wurde. Vor allem aber haben die Sanktionen die Idee eines deutsch-französischen Kondominiums oder einer "Achse Paris-Berlin" gründlich diskreditiert. Damit wollten die beiden "Großen" Herrschaft und Macht über die kleinen Staaten ausüben. Wenn diese "Kleinen" gescheit sind, werden sie alles daransetzen, die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU zu verhindern. Sonst würde der Chirac-Schröder-Expreß sie mitleidslos überfahren.


 
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