© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Wachstum schafft Probleme
Bevölkerungspolitik: Die gängigen Rentenkonzepte ignorieren die Naturgesetze
Volker Kempf

Der erste, 1972 veröffentlichte Bericht an den Club of Rome über "Die Grenzen des Wachstums" hat als eine der wichtigsten variablen Größen bei der Erklärung eines globalen Entwicklungsmodells die demographischen Faktoren hervorgehoben. Gewarnt wurde eindringlich vor den apokalyptischen Folgen, die sich aus einem unbegrenzten Bevölkerungswachstum ergeben. Ähnliche Schlußfolgerungen zog wenige Jahre später die Studie an den US-Präsidenten Jimmy Carter unter dem Titel "Global 2000". Auch in Umweltverbänden wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) oder der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) wurde der Zusammenhang von "Bevölkerungsdichte und irdischem Gleichgewicht" (Gruhl) bis in die achtziger Jahre hinein thematisiert. Dann setzten sich gegen eine derartige Thematisierung langsam – aber sicher – aufgestellte Tabus durch. Dabei gilt die Gleichung von Umweltbelastung = Einwohnerzahl x Wohlstand in Energieverbrauch pro Kopf, geteilt durch Fläche, noch immer.

Es bleibt vor diesem Hintergrund unsinnig, Nachhaltigkeit und den Schutz der Tier- und Pflanzenarten zu fordern, wenn vom Faktor Bevölkerungszahl abgesehen wird. Schon jetzt sind 25 bis 50 Prozent der wildlebenden Pflanzen- und Tierarten im deutschsprachigen Raum vom Aussterben bedroht – Menschen verdrängen die Wildnis. Der Ausstoß von treibhausrelevanten Gasen ist zudem erheblich. In der Schweiz wurden erfolgreiche Energieeinsparmaßnahmen durch eine gestiegene Bevölkerung von 70.000 Menschen pro Jahr wieder zunichte gemacht. Gerade sich grün nennende Politiker müßten sich diesen Zusammenhang zu eigen machen. Statt dessen fordert ihre Klientel besonders nachdrücklich und im Pathos der moralischen Erhabenheit mehr Einwanderung von Menschen aus ärmeren Ländern in wohlhabendere Länder. Daß dabei nicht nur die Umwelt nachhaltig geschädigt wird, sondern auch alle sozialen Sicherungssysteme und damit die politische Steuerungsfähigkeit des Landes überansprucht werden würde, scheint keine Rolle mehr zu spielen.

Auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 wurde allen Unkenrufen zum Trotz – zumindest am Rande – der genannte Zusammenhang erörtert und festgestellt, daß der Zuzug von Menschen aus Dritteweltländern in wohlhabendere Regionen nicht wünschenswert sein könne. Die Einwohnerzahl in wohlhabenden Industrienationen müsse unter ökologischen Gesichtspunkten betrachtet sinken. Eine UNO-Studie rechnete wenige Jahre später vor, wie viele Einwanderer Deutschland und Europa bräuchten, um, gemessen am Stand von 1995, das Verhältnis von Menschen im erwerbsfähigen Alter und im Rentenalter von über 65 Jahren zu halten, das 4:1 beträgt. Bei gleichbleibender Geburtenrate müßte die EU jährlich 27 Millionen Immigranten aufnehmen; allein auf Deutschland kämen jährlich knapp 500.000 Menschen zu. Da auch Einwanderer alt werden, müßte auch für diese Menschen Zuwanderung stattfinden, um das ebengenannte Verhältnis zu wahren. Die Folge wäre mehr als eine Verdreifachung der Population in Deutschland bis zum Jahr 2100: Die Einwohnerzahl wüchse hierzulande von heute 82 Millionen auf über 250 Millionen Menschen an, rechnete im April diesen Jahres Werner Haug vom Bundesamt für Statistik vor. Ohne Zuwanderung nähme die Einwohnerzahl in Deutschland hingegen auf 73 Millionen ab. Daß eine Rate von jährlich 500.000 Einwanderern nach Deutschland unzumutbar ist, bemerkt am Ende der UNO-Studie – besser spät als gar nicht – der Direktor der UNO-Bevölkerungsabteilung, James Chamie. Mit anderen Worten: Es ist Unsinn, die Alterung eines Volkes durch Einwanderung ausgleichen zu wollen. Auch mehr Kinder aus der eigenen Bevölkerung lösen das Problem nicht. Wo sollen schließlich im Jahre 2100 die 250 Millionen Menschen in Deutschland hin? In die kleine Schweiz, die nach dem Bevölkerungskonzept "4:1" per Übertragsrechnung selbst mit einer Bevölkerungszahl von 26 Millionen Gipfelstürmern zu tun hätte? Nein, die Wirklichkeit läßt sich nicht in ein Rentenkonzept mit Umlageprinzip pressen, welches aus Zeiten der Bevölkerungsvermehrung im frühen 20. Jahrhundert stammt. Die Schweiz hat längst umgestellt auf ein sogenanntes Drei-Säulen-Modell, wonach jede Generation letztlich für sich selber vorsorgt. Anders geht es auf Dauer nicht.

Was selbst am Ende der UNO-Studie unerwähnt bleibt, ist, daß die abnehmende Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter als Berechnungsgrundlage für eine angeblich notwendige Einwanderung mangelhaft ist. Es wird ausgeblendet, daß nicht alle erwerbsfähigen Personen auch tatsächlich erwerbstätig sind. Was ist mit dem Nachwuchs in Deutschland? Hat er marktgerechte Ausbildungen vorzuweisen, oder müssen neue Qualifikationen hinzukommen? Und was ist mit den zahlreichen Müttern, die so gerne ins Berufsleben zurück wollen? Sind die Deutschen arbeitsam genug oder sitzen sie lieber dem Sozialstaat auf der Pelle, um die Arbeit von Zuwanderern erledigen zu lassen, die dann die Rentenkassen füllen sollen? Es müßte hinterfragt werden, ob Fachkräfte aus dem Ausland wirklich notwendig sind.

Wie in Deutschland, wird auch in der Schweiz ein Sonderkontingent an Arbeitsbewilligungen für den Informatik-Bereich gefordert. Doch das schweizerische Bundesamt für Ausländerfragen (BFA) sieht das Thema von den Medien hochgeschaukelt. Die Kontingente für Jahresaufenthalte wurden in der Schweiz 1999 nur zu 80 Prozent beansprucht, davon entfiel lediglich ein Fünftel auf Informatiker. "Der Mangel an Informatikern ist zur Zeit nicht ein Problem der Kontingente", betonte denn auch Dieter Gross vom BFA. Wie in Deutschland sind die Zahlen von notwendigen Informatik-Spezialisten aus dem Ausland offenkundig maßlos überhöht. Die Informatikerausbildung kommt unterdessen in beiden Ländern in Schwung. Die Schweizer Innenministerin Ruth Metzel hat auf Forderungen der dortigen Handelskammer nach Kontingenten für den Aufenthalt von Fachkräften folglich ablehnend reagiert: "Zur Zeit ist die Schaffung von Sonderkontingenten nicht opportun."

Doch solange die Wirtschaft mit ihrer Forderung nach mehr Einwanderung in Deutschland das Sagen hat, wird das Bevölkerungswachstum weitergehen und dem Umweltschutz geopfert werden. Nur heuchlerisch, welche Partei hier mitspielt und sich "grün" oder "ökologisch" nennt. Daß die in der UNO-Studie erwähnten, angeblich notwendigen Zuwanderungszahlen zudem, konkret umgesetzt, nicht dem sozialen Frieden dienlich wären, dürfte, bis auf einige multikulturelle Tagträumer, jedem einleuchten. Dennoch taucht diese Einsicht in der erwähnten UNO-Studie nur am Rande auf. Die ökologisch-räumlichen Grenzen des Bevölkerungswachstums spielen hingegen gar keine Rolle. Wen wundert es da noch, wenn Politiker im Inbrunst der Überzeugung mit der untauglichen Formel "Einwanderung gegen Überalterung und Fachkräftemangel" hausieren gehen.

Etwas bescheidener fällt in diesen Tagen die Neunete Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus. Dies aber vor allem deshalb, weil auf Lösungsvorschläge mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung verzichtet wurde. Das hinderte Journalisten nicht daran, mit ihren Patentlösungen aufzuwarten, die denen der UNO-Studie in nichts nachstehen. Immerhin spreche sich allmählich aber auch bei Politikernd herum, betonte sinngemäß der Präsident des Wiesbadener Bundesamtes, Johann Hahlen, daß Lösungen zum Rentenproblem, die bis zu 3,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr bedeuteten würden, kaum mehr als deren eigene Faktenresistenz dokumentieren.

Das Statistische Bundesamt hat letztlich nur nackte Zahlen präsentiert: Bei einer Einwanderungsrate von 200.000 Menschen im Jahr sinke die Bevölkerung in Deutschland, bei 365.000 Zuzüglern pro Jahr aus dem Ausland würde sich ein Nullwachstum einstellen. Was daraus zu folgern ist, dafür ist die Bundestags-Enquetekommission zum demographischen Wandel zuständig. Doch der Vorsitzende dieser Kommission, Walter Link (CDU), behält sich Handlungsempfehlungen etwa zum Renten- und Pflegesystem noch bis 2001 vor. Er sieht aber schon jetzt eine brisante Diskussion auf sich zukommen.

 

Volker Kempf ist Soziologe und arbeitet an einer Dissertation über Herbert Gruhl und dessen Nachlaß. Im September erscheint sein Buch "Stigma deutsch. Aufsätze zur Bewältigung einer beschädigten Identität".


 
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