© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Russische MiG und Wiener Schiedssprüche
Ungarn: Die Parteien der Mitte-Rechts-Koalition regieren trotz internen Streits unverdrossen weiter
Alexander Barti

Daß es in der aus drei Parteien beste-henden ungarischen Mitte-Rechts-Regierungskoalition Streit gibt, ist nicht neu: Auch bei der geplanten Steuerreform und bei der Reform der Landesverteidigung nehmen die beiden stärksten Parteien – Fidesz-MPP (Jungdemokraten-Ungarische Bürgerpartei) und die Kleinlandwirtepartei (FüggetlenKisgazdapárt-FKGP) diametral entgegengesetzte Positionen ein.

Die Steuerreformpläne von Fidesz werden nicht nur von der Linksopposition – bestehend aus den Sozialisten (MSZP) und den Linksliberalen (SZDSZ) – und den Gewerkschaften abgelehnt, auch der Sprecher der FKGP äußerte sich bei einer Parlamentsdebatte kritisch. Mitte vergangener Woche beschuldigte sogar Premierminister Viktor Orbán (Fidesz) dann den Generalstabschef der ungarischen Armee, die Reform der Landesverteidigung zu gefährden. Generalstabschef Lajos Fodor solle deshalb die nötigen Konsequenzen ziehen.

Fodor hatte erklärt, bei der Anpassung der Streitkräfte an Nato-Standards habe man mit der Ausmusterung der MiG-Kampfflugzeuge sowjetischer Herkunft eine "rein politische Entscheidung" (und keine ökonomische) getroffen. Verteidigungsminister János Szabó (FKGP) nahm jedoch seinen Generalstabschef in Schutz und trug damit zur Verschärfung des Koalitionsstreites bei. Fodor wiederum fragte den Premier in einem Radio-Interview, welche Konsequenzen er sich denn konkret vorstelle. Bei einer Armeereform gehe es darum, das Heer zu verkleinern, mobiler und finanzierbar zu machen, und nicht um politische Lösungen.

Selbst am 5. September, als das ungarische Parlament gemeinsam dem 60. Jahrestag der "Wiener Schiedssprüche" gedachte, setzten die Koalitionäre unterschiedliche Akzente: Zsolt Lányi, Abgeordneter der FKGP, erklärte im Plenum, daß man "niemals an dem Sieg der historischen Wahrheit zweifeln dürfe". Daher müsse man auch offen über "friedliche Grenzrevisionen" sprechen dürfen.

János Mártonyi, ungarischer Außenminister und Mitglied von Fidesz, wies hingegen in seinem Redebeitrag unter anderem darauf hin, daß man die Lage der ungarischen Minderheiten in den umliegenden Ländern nur dann lösen könne, wenn die mittel- und osteuropäischen Staaten kooperieren, allerdings ohne von "raumfremden" Mächten dazu gezwungen zu werden. Das sind Positionen, die ähnlich auch vom SZDSZ oder der MSZP vertreten werden. Über Grenzrevisionen sprach der ungarische Chefdiplomat selbstverständlich nicht – aus Überzeugung und nicht aus Angst vor Kritik aus Brüssel: Mártonyi war einer der wenigen Fidesz-Politiker, die sich verhalten-kritisch zur blau-schwarzen Koalition in Wien äußerten. Im Gegensatz etwa zu Orbán und der FKGP.

Fragt man übrigens deutsche Geschichtslehrer, dann wissen die meisten nicht, was die "Wiener Schiedssprüche" waren: Am 30. August 1940 wurde im Belvedere-Palast in Wien – auf Betreiben des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop und des italienischen Außenministers Graf Ciano – eine Vereinbarung geschlossen, durch die Ungarn Nordsiebenbürgen und das Szeklerland, welches nach dem "Friedensvertrag" von Trianon 1920 Rumänien zugesprochen worden war, zurückbekam. Das Vorspiel des Wiener Schiedsspruchs war ein am 26. Juni 1940 unterzeichneter Vertrag, durch den die – damals mit dem Deutschen Reich "verbündete" – Sowjetunion von Rumänien Bessarabien (heute Moldawien) und das nördliche Buchenland (Bukowina) erhalten hatte. Am nächsten Tag hatte der Ministerrat von Ungarn – unter Vorsitz des Reichsverwesers Miklos von Horthy – erklärt, daß auch Ungarn seine Gebietsansprüche durchsetzen werde, wenn Rumänien dem sowjetischen Druck nachgibt.

Die daraufhin in Szörényvár (rumänisch: Turnu Severin) stattfindenden rumänisch-ungarischen Verhandlungen wurden ergebnislos abgebrochen, so daß Ungarn am 26. August mit der Mobilmachung begann. Rumänien bat am 27. August um ein deutsch-italienisches Schiedsgericht, welches in wenigen Tagen sein Urteil verkündete. Die ungarischen Truppen begannen am 3. September mit dem Einmarsch in das ihnen zugesprochene Gebiet und erreichten am 9. September die neue "alte" Landesgrenze in den Ost-Karpaten.

In dem zurückgewonnenen Gebiet lebten damals etwa 2,2 Millionen Menschen, davon waren 50,9 Prozent Ungarn, 42,5 Prozent Rumänen, 4,1 Prozent Deutsche und 2,5 Prozent anderer Nationalität.


 
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