© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
PRO&CONTRA
Generalamnestie für SED-Täter?
Peter-Michael Diestel / Wolfgang Becker

Schabowski und Kleiber raus aus dem Knast, Krenz soll weiter brummen. Eberhard der Große von Berlin läßt Gnade walten. Er will zum zehnten Jahrestag der Einheit ein Zeichen setzen. Das setzt er. Ostdeutsche wissen nun, wie sie Bürger erster Ordnung werden können: abschwören, Lippenbekenntnis, zu Kreuze kriechen. Wer aufrecht zu dem steht, was er glaubt verantworten zu können, bleibt im Knast. Wer gar Siegerjustiz sagt, gehört aufs Rad. Dumpft da nicht Mittelalterliches? Was soll mit den anderen geschehen, die zu DDR-Zeiten gegen DDR-Recht verstoßen haben? Zunächst bereitet mir der Terminus "SED-Täter" gewisse Schwierigkeiten. Da in der Bundesrepublik Deutschland (vorgeblich) keine politischen Prozesse geführt werden, scheint er mir fehl am Platze.

Grundsätzlich bin ich als politisch denkender Jurist der Auffassung, daß gesetzlich fixierte Straftatbestände verfolgt werden müssen, wem immer sie anzulasten sind und wo immer sie geschahen. Diebstahl bleibt Diebstahl, Körperverletzung bleibt Körperverletzung, Mord bleibt Mord, egal ob der Tatort im Osten oder im Westen lag. Wir haben jetzt ein Recht in Deutschland, vor dem laut Grundgesetz alle gleich sind. Sonderrechte für bestimmte Gruppen beschwören gerade in Deutschland unangenehme Assoziationen herauf. Zudem: Gerichte können eine politische Bewertung und Einordnung des zeitweiligen deutschen Sonderweges mit Namen DDR ohnehin nicht leisten.

Was also tun? Meine Meinung: Laßt die ohnehin wenigen Einsitzenden frei, so, wie sie für schuldig befunden worden sind. Bedenkt, daß letzlich auch sie zu einer unblutigen Wende und damit zur friedlichen Einheit beigetragen haben.

Den professionellen Aufschrei von sattsam gehörten Berufsopfern wie Klier, Barbe und Lengsfeld kann ich ertragen. Tatsächlich Betroffene, die jahrelang in Bautzen einsaßen, sprechen eine andere Sprache, die ich teile: die der Toleranz, der Fairneß, des Vergebens.

 

Peter-Michael Diestel ist Rechtsanwalt. Der CDU-Politiker war letzter DDR-Innenminister und danach Fraktionschef in Brandenburg.

 

 

Der Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen hat am 3. September den General der Grenztruppen der ehemaligen DDR und die Mitglieder des SED-Politbüros Günter Schabowski und Günther Kleiber nach neun Monaten Strafvollzug begnadigt. Das Strafmaß von drei Jahren zeugte schon von einer großen Humanität. Obwohl sie jahrzehnte elementare Menschenrechte gebrochen und vor Gericht die strafrechtliche Verantwortung abgelehnt haben. Schon aus den Gründen hätten sie nicht begnadigt werden dürfen. Eine Begnadigung ist ein Akt der Humanität. Er soll normalerweise einmal nach der Verhältnismäßigkeit der Tat und nach zwei Dritteln der Haft ausgesprochen werden. Man hat in diesem Fall für Staatskriminelle eine Ausnahmeregelung geschaffen.

Auch die schönen Worte von Herrn Schabowski können uns politische Häftlinge nur wenig beeindrucken: "Nichts konnte und nichts kann rechtfertigen, daß auch nur ein einziger Flüchtling unter den schrecklichen Umständen sein Leben lassen mußte." Weiterhin sagte Schabowski: Er verneige sich vor den Opfern und Angehörigen und bitte um Verzeihung. Über diese Aussagen hätte er sich Gedanken machen müssen, als er über viele Jahre hinweg SED-Chef von Berlin gewesen ist.

Heute können diese Herren sagen: "Es hat sich gelohnt, der Macht zu dienen". Dagegen sagen wir politische Häftlinge und alle ehemals politisch Verfolgten dieser Diktatur: Wir haben für Freiheit und Demokratie gekämpft, und für die Einheit unseres Vaterlandes materielle Nachteile in Kauf nehmen müssen. Gesundheit und die besten Jahre unseres Lebens geopfert, viele sogar ihr Leben. Wer mit den Tätern Frieden schließt, erklärt den Opfern den Krieg. Versöhnung kann nur durch die Opfer geschehen.

Aus genannten Gründen kann diese Begnadigung oder, noch schlimmer, eine Generalamnestie für SED-Täter nicht im Sinne des 3. Oktober sein.

 

Wolfgang Becker ist Vorsitzender des Verbandes politischer Häftlinge des Stalinismus e. V.


 
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