© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Es leben die Schlächter
Nathaniel Philbricks historische Reportage über die letzte Fahrt des Walfängers Essex und das "moderne Volk" Nantuckets
Ulrike Imhof

Im Sommer 1819 sticht der Walfänger Essex von Nantucket, einer kleinen Insel vor Neuenglands Küste, in See und nimmt Kurs auf Kap Horn. Vor den Falkland-Inseln erlegen die Harpuniere ihren ersten Pottwal. Nach einer stürmischen, einmonatigen Umrundung des Kaps, erreichen die zweiundzwanzig Besatzungsmitglieder im Januar 1820 Chile. Nach etlichen glücklosen Monaten stellen sich in den pazifischen Gewässern vor Peru endlich Erfolge ein. Elf Wale werden getötet. Aus ihrem Speck kochen die Männer Kapitän Pollards 450 Faß Öl, ein Rohstoff, der damals für die Straßenbeleuchtung verwendet wurde. Im Oktober 1820 nimmt die Essex Kurs auf die Galapagos-Inseln, wo Pollards Männer zur Schildkrötenjagd ausschwärmen, um sich so lebenden Proviant zu sichern für die Reise in die reichen Fanggründe des mittleren Pazifik, an den Rand der ihnen bekannten Welt.

Tausend Seemeilen westlich von Galapagos kreuzend hofft man, inmitten großer "Walschulen", das blutige Handwerk fortsetzen zu können. Doch statt dessen geschieht etwas Ungewöhnliches: Ein riesiger Pottwal rammt und versenkt die Essex , während der größte Teil der Besatzung gerade versucht, seinen Artgenossen von Beibooten aus den Garaus zu machen. Für die zwanzig Überlebenden der Attacke beginnt eine beispiellose Odyssee. Drei Monate treiben sie in ihren Nußschalen, von Schildkrötenfleisch und Zwieback zehrend, im Pazifik. Zuletzt beginnen die von Hunger und Durst gepeinigten Schiffbrüchigen damit, sich gegenseitig zu verspeisen, wobei die fünf Schwarzen die ersten Opfer dieses Kannibalismus werden. Als zwei Boote Ende Februar 1821 von Walfängern vor Valparaiso aufgefischt werden, birgt man fünf Überlebende. Drei Männer, die sich unterwegs entschlossen hatten, auf einem unwirtlichen Eiland auszuharren, können wenig später gerettet werden. Soweit das Handlungsgerüst der Geschichte, die Nathaniel Philbrick, Direktor des Institute of Maritime Studies auf Nantucket, erzählt. Das Spannungspotential, das diese story enthält, reicht allemal für die Warnung, möglichst nicht mit der Lektüre zu beginnen, wenn man morgens früh aufstehen muß. Denn in Bann geschlagen von der minutiösen Schilderung, verfolgt man das Martyrium von Pollard und seinen Leidensgefährten mit einer Intensität, die nicht wenige Leser an die zeitenthobene Exzesse erinnern dürfte, die sie einst mit Karl May feierten. Doch die spannende Fabel ist nur ein Aspekt dieses exzeptionellen Werkes, das mit seinen Textschichten einer Zwiebel gleicht, die man Haut für Haut abzieht.

Unter dem Abenteuerroman, dem besten "See-Stück" seit Sten Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit"(1983), wartet als Sachbuch eine Sozialgeschichte des Walfangs. Nicht zufällig bietet Philbrick seinen Lesern einen vierzigseitigen Anmerkungsteil, eine Bibliographie raisonée zu allen Facetten amerikanischer Walfanghistorie, die um 1700 auf Nantucket und an den Häfen der Ostküste begann und in deren Annalen zwischen 1804, dem Beginn der pazifischen Reisen, und 1876 allein 225.000 getötete Pottwale verzeichnet sind. Jenseits solch abstrakter Zahlen gestattet Philbrick in einigen Passagen auch plastische Einblicke in die mörderische Praxis maritimer Bluternte, die den heute aktiven Walschützern hoffentlich Scharen neuer Spender werben: "Manchmal mußte der Maat seine Lanze fünfzehn Mal in das Tier bohren und so heftig in den bei der Lunge zusammenlaufenden Arteriesträngen herumwühlen, daß nach kurzer Zeit das Walboot auf einem sprudelenden Strom hellroten Blutes schwamm."

Die hier entfesselte Gewalt führt auf eine dritte Ebene, die sich mit mentalen Determinanten des Amerikanertums befaßt. Philbrick läßt sich dabei von dem Diktum des englischen Konservativen Edmund Burke leiten, der 1775 die Nantucketer wegen ihres expansiven Pioniergeistes als "modernes Volk" feierte. Philbrick diagnostiziert bei dieser vom Quäkertum dominierten Insulaner-Avantgarde der Moderne eine "einzigartige Verbindung von Spiritualität und Habsucht", die die Natur unter der Losung "Es leben die Schlächter!" radikal vernutze: "So wie wenig später die Prärien des amerikanischen Westens mit enthäuteten Büffelkadavern übersät waren, trieben Anfang des 19. Jahrhunderts die kopflosen grauen Überreste von Pottwalen auf dem Pazifischen Ozean." Spontan erinnert man sich an jene Sequenz aus Independence Day, in der der US-Präsident schaudernd über "abweidende" Heuschrecken-Mentalität der außerirdischen Aggressoren klagt – eine klassische Projektion, wie man, von Philbrick belehrt, vermuten darf.

Wem das schon wieder zu politisch ist, der weiche auf die vierte Ebene von Philbricks Meisterwerk aus und lese es als Begleitbuch zu "Moby Dick" (1851), dessen Autor Herman Melville sich vom Essex-Schicksal genau so inspirieren ließ wie Edgar A. Poe. Ulrike Imhof

Nathaniel Philbrick:Im Herzen der See. Die letzte Fahrt des Walfängers Essex. Carl Blessing Verlag, München 2000, 352 Seiten, 30 Abb., Karten, 44 Mark


 
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