© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
CD: Pop
Rückwärtsgewandt
Peter Boßdorf

"Seid Ihr mit mir?" fragt Patrick Wagner in seiner Eigenschaft als Sänger der Band Surrogat im letzten Lied der CD "Rock" (Kitty-yo) und vollendet damit mehrdeutig den Versuch einer Wiederverzauberung der in ihrer binären Gestalt nackt und langweilig vor sich hin wuchernden modernen Welt. Es gibt eine weit verbreitete Sehnsucht nach jener Zeit, in der Entfernungen noch etwas galten, Maschinen mechanisch erklärbar waren und das Funktionieren von Telefonzellen über Beziehungen entschied. Damals lebten die Menschen noch ursprünglich, sie verachteten den Konsum der anderen und fanden reichlich Anhaltspunkte, um sich entfremdet und allein zu fühlen. Dazu hörten sie Rock-Musik. Nur einmal gelang es, die heimelige Vertrauensbasis wiederherzustellen: Das war das Projekt Punk mit seiner erfolgreichen De-Facto-Mission, den ökonomischen Hintergrund von Unterhaltungsmusik wenigstens für einige wenige ihrer Segmente zu verschleiern. So etwas ist heute nicht mehr möglich, und so etwas ist heute auch nicht mehr nötig: Der Terror der neuen wie der alten Ökonomie ist eine Empfindung, deren Lust nur jene verspüren, die an ihr verdienen können.

Auch Surrogat kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, die souverän ausgespielte Unmittelbarkeit prallt ab am Autismus eines Gesamtbefindens, in dem Anwandlungen individueller Verlorenheit die erotische Attraktivität erhöhen und dem Artefakt der eigenen Persönlichkeit einen zusätzlichen Schick verleihen. Dort, wo man über das Ziel hinauszuschießen scheint, ist die Ironie unüberhörbar und leider auch berechtigt: "Gib mir alles!" beziehungsweise das in einem vorintellektuellen Versuch eines Überraschungsmoments aus diesem entwickelte "Alles muß zerstört werden!" sind Forderungen, deren Zeitlosigkeit zu widerlegen unsere Zeit angetreten zu sein scheint. Gegen Eigentumsverhältnisse läßt sich aber mit einem Augenzwin-kern nichts ausrichten. Anders als den übrigen verbliebenen Ehrlich-keitsfanatikern von Blumfeld bis Tocotronic steht den auch in Erscheinungsbild und Arrangement rückwärtsgewandten Musikern von Surrogat der Sinn noch nicht nach Manierismus, dazu wäre es in der Bandgeschichte aber sowieso zu früh. Surrogat hütet das Erbe des Einspruchs, ohne dieses antreten zu können. Soviel Nostalgie sollte jedoch durchaus erlaubt sein.

Die Zeitreise, die hingegen die vier unter dem Namen The Kingsbury Manx firmierenden Musiker aus North Carolina antreten, führt in die entspannte Unaufgeregtheit der Erkenntnis, daß man die Welt um sich herum eigentlich vergessen kann, weil man in ihrem Mittelpunkt steht. Die CD "s/t", die vom Berliner Label City Slang unters deutsche Volk gebracht wird, klingt wie eine Veröffentlichung der seligen Velvet Underground. All die schönen Schnappschüsse aus Andy Warhols Factory erstehen aufs Neue vor den Augen, und die vielen hübschen Anekdoten aus dem geselligen Treiben der dort versammelten Stars verführen den Mund zu einem wissenden Lächeln: Ja, wir sind dankbar, weil uns keine Bitterkeit die Zuversicht trüben kann und das Leben auch in seiner Zuspitzung ein Erlebnis bleibt.

Dagegen können die allermeisten Versuche der jüngsten Vergangenheit einpacken, die sich abmühen, eine selbstverliebte Gelassenheit an den Tag zu legen, die sich keinen Deut um Eleganz scheren muß, da zeigt sich nicht zuletzt, daß die Kluft zwischen der Working-Class-Weltverachtung nach der Methode Oasis und jener der Bourgeoisie ästhetisch unüberbrückbar ist. Wohlklang und Ausgeglichenheit lassen sich auch dann verbreiten, wenn man nicht mit allem zufrieden, solange der Lebensstandard den Sinn für Harmonie wachhält. The Kingsbury Manx bietet daher eine Musik, die vielleicht nicht zeitlos, auf jeden Fall aber modern ist – Heimatklänge für die Bewohner der Wohlstandsinseln.


 
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