© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Der Netzverwalter wird gewählt
Internet: Im weltweiten Datennetz wird ein Kontrollgremium gewählt / Zwei Deutsche liegen vorn / Chaotischer Ablauf
Ronald Gläser

Jörg Claussen verdingt sich bei einer Zeitarbeitsfirma, ist ledig und trinkt gerne Bier. Für globale Führungsaufgaben sieht er sich selbst als "nicht qualifiziert" an. Trotzdem gehört er zu den über 100 europäischen Kandidaten für die Wahl des ICANN-Internetdirektoriums. Darüber wird Anfang Oktober online abgestimmt.

Das phänomenale Wachstum des Internets wirft organisatorische Fragen auf, die kaum jemand vorhersehen konnte. Die Zahl der Nutzer und der Seiten, die übertragenen Datenmengen und die Überlastung der zentralen Rechner explodieren seit Mitte der neunziger Jahre, und ein Ende dieses weltweiten Trends ist vorerst nicht abzusehen. Weil das Netz seine Anfänge in Amerika genommen hat, beaufsichtigten ursprünglich amerikanische Behörden die Rahmenbedingungen in Weltnetz.

Seit rund zwei Jahren gibt es mit ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) eine globale Instanz, deren Aufgabenbereich klar definiert ist. Vereinfacht ausgedrückt hat ICANN die Oberaufsicht über die Vergabe der Internetadressen und damit der Domain-"Namen". Zusätzlich setzt ICANN technische Standards, um den einheitlichen und reibungslosen Ablauf des Internets als ganzem zu gewährleisten. Die private, aber nichtkommerzielle Firma mit Sitz in Kalifornien maßt sich nicht an, als Aufsichtsbehörde zu agieren oder gar inhaltliche Vorschriften zu erlassen. Gleichwohl hat die Vergabe der Namen ungeheure politische und auch wirtschaftliche Bedeutung. Daher sehen Kritiker in dem technischen Kontrollgremium den Nukleus einer Internet-Regierung.

Die drei Aufgabenbereiche von ICANN werden von einem übergeordneten Gremium kontrolliert, dem ICANN-Direktorium. Dies besteht aus 19 Mitgliedern und setzt sich neben dem Präsidenten Mike Roberts je zur Hälfte aus Angehörigen der Verwaltung und der Mitglieder zusammen. Mitglied werden kann jeder Internetnutzer, wobei die Anmeldefrist für die jetzt laufende Wahl der ersten fünf Direktoren bereits abgelaufen ist. ICANN mußte aber den Wahltermin verschieben, da die Beteiligung der rund 150.000 registrierten Nutzer bisher sehr schwach ausgefallen ist. Diese erhielten ihr persönliches Kennwort mit der Post, und deren Zustellung scheint in einigen Teilen der Welt recht schleppend voranzugehen.

Auf einer Konferenz in Kairo hatte man sich auf die Grundzüge des Verfahrens geeinigt, die Ablaufmodalitäten aber nachträglich mehrfach modifiziert. Dies alles ist beispielhaft für den chaotischen Ablauf, den ICANN selbst zu verantworten hat. In einer Welt, die so unübersichtlich ist wie das Internet, ist das aber auch nicht überraschend.

In fünf Regionen wird jetzt je ein Kandidat bestimmt: Asien/Australien/Ozeanien, Europa, Nordamerika, Lateinamerika und Afrika. Unter den Deutschen, die in Europa zur Wahl stehen, befinden sich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, deren berufliche Tätigkeit meist in der Informationstechnologie zu suchen ist. Einer ist arbeitet beim Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektronik-Industrie, ein anderer ist IT-Berater und ein dritter setzt sich für Urheberrechte ein. Weltanschauliche Überzeugungen spielen in der Selbstdarstellung der Kandidaten offenbar eine untergeordnete Rolle. Einzig eine Kandidaten erklärt, sie sei in der PDS gewesen. Ein anderer ist bayerischer Landesbeamter, stolzer Familienvater und Gastredner beim Goetheinstitut.

Aber weil auch die herkömmlichen Medien nach wie vor die Meinung viel deutlicher beeinflussen als das elektronische Netz, stehen einige wenige Bewerber im Rampenlicht des Interesses, denen sich derzeit alle möglichen Fachzeitungen widmen. Die Berliner Wissenschaftlerin Jeanette Hoffmann und insbesondere der Computerexperte Andy Müller-Maghun vom Chaos Computer Club haben sich im bisherigen Nominierungsverfahren deutlich von den anderen Bewerbern abgesetzt.

Nur fünf weitere Bewerber kommen auf mehr als drei Prozent der Stimmen, während Müller-Maghun mit über 32 Prozent deutlich vorne liegt. Der Berliner Professor Zerdick, dem ebenfalls Chancen eingeräumt wurden, ist dagegen deutlich zurückgefallen. Die motivierte und einfallsreiche Anhängerschaft des Chaos Computer Clubs scheint derzeit den Sieg Andy Müller-Maghuns unausweichlich zu machen.

Die Wahl ist natürlich nur ein Experiment und wird das Internet nicht schlagartig verändern. In der Summe nehmen nur einige zehntausend Internetnutzer daran teil. Aber langfristig könnte sich aus ICANN eine Kontrollbehörde mit zusätzlichen Kompetenzen entwickeln. Dann ist die Aufsicht über dieses Gremium von großer Bedeutung. Die Emanzipation ICANN’s von der US-Regierung, sowohl in lokaler als auch in rechtlicher Hinsicht, sollte ein langfristiges Ziel sein. Die US-Regierung hat diese Verantwortung ja bereits formal "ausgegliedert".

Der Erfolg der Wahl wird davon abhängen, ob das Gremium dies umzusetzen vermag. Wichtig ist auch, daß der Repräsentationsgrad ein höheres Maß erhält. Ein demokratisches Gremium, das die Stimmung der "Teilnehmer" abbildet, wird ICANN auch nach der ersten Wahl beileibe nicht sein.


 
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