© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
BLICK NACH OSTEN
Wien als Sachwalter der Vertriebenen
Carl Gustaf Ströhm

Wie sehr sich Politik und Geschichte manchmal in dia-lektischen Sprüngen vollziehen, zeigt sich am Beispiel Österreichs. Die Alpenrepublik definierte sich seit 1945 durch strikte Abgrenzung von Deutschland. Doch zugleich hat sich Wien jetzt in den einzigen Fürsprecher zweier deutscher Volksgruppen verwandelt – der Sudeten- und der Volksdeutschen aus Ex-Jugoslawien – im konkreten Fall: aus Slowenien.

Beide Volksgruppen wurden nach 1945 enteignet, vertrieben – mehrere Hunderttausend ermordet: zu Tode geschunden in Arbeitslagern und bei "Todesmärschen". Während sich das Interesse der rot-grünen Koalition und der CDU für die deutschen Vertriebenen in engen Grenzen hält, hat Wien gegenüber Tschechien und Slowenien das Vertreibungsproblem deutlich zur Sprache gebracht. Die Regierung von Kanzler Schüssel fordert von Prag und Laibach die Aufhebung der Benesch- und Avnoj-Dekrete, durch welche 1944/45 alle Deutschen in der damaligen Tschechoslowakei und im kommunistischen Jugoslawien für vogelfrei erklärt wurden.

Wien spricht im Namen der "Alt-Österreicher" – aber indirekt auch im Namen aller "Volksdeutschen", wenn es zu verstehen gibt, daß solche Maßnahmen, wie sie 1945 gegen die Deutschen ergriffen wurden, mit der europäischen "Wertegemeinschaft" unvereinbar seien. Anders gesagt: Tschechien und Slowenien sollen nur dann der EU beitreten, wenn sie diese diskriminierenden Akte für ungültig erklären. Das aber bedeutet: theoretisch stünde dann den Sudeten- und Südostdeutschen das Recht auf Entschädigung und Vermögensrückgabe zu.

Innerhalb der schwarz-blauen Wiener Koalition gibt es allerdings einen Gegensatz: die FPÖ erklärt, Österreich werde gegen die Aufnahme Tschechiens und Sloweniens in die EU ein Veto einlegen, solange die betreffenden Dekrete nicht vom Tisch seien. Die ÖVP will kein Veto, erwartet aber, das die Benesch- und Avnoj-Dekrete sich als derart unzeitgemäß erweisen, daß den Kandidaten gar nichts übrigbleibt, als sich von ihnen schnell zu verabschieden. Die offizielle Wiener Außenpolitik vollzieht gegenüber Prag eine Flankenoperation: Sie fordert von Prag außerdem, das grenznahe Atomkraftwerk Temelín wegen mangelnder Sicherheitsstandards nicht in Betrieb zu nehmen. Dabei appelliert Wien sehr geschickt an die deutschen Grünen, die natürlich niemals etwas gegen die Benesch-Dekrete, wohl aber gegen tschechische AKWs zu unternehmen bereit sind. So gerät Prag unter doppelten Druck.

"Die Österreicher lieben uns nicht, weil sie meinen, wir hätten die Habsburger Monarchie zerstört", jammerte eine Prager Tageszeitung über den gegenwärtigen Tiefstand der Beziehungen. Bemerkenswert ist auch eine Äußerung Bundeskanzler Schüssels, der anläßlich eines "Koalitionsausflugs" an die slowenische Grenze erklärte, er verstehe nicht, wieso sich die Slowenen derart für kommunistisch-titoistische Unrechtsdekrete stark machten. Schüssel schloß mit einem Seitenhieb auf den slowenischen Präsidenten Milan Kucan, der sich als früherer KP-Chef vielleicht nicht von der roten Vergangenheit trennen könne. Das Vorpreschen Österreichs zugunsten der Sudeten- und Sloweniendeutschen desavouiert nicht nur die Untätigkeit, ja Feindseligkeit der Berliner Regierung gegenüber den Vertriebenen. Zugleich geraten auch der bayerische Ministerpräsident Stoiber und die CSU in Bedrängnis. Nicht mehr Bayern, sondern Österreich ist über Nacht zum Sachwalter der Sudetendeutschen geworden.


 
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