© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Die grüne Perestroika des Wüstenfuchses
Libyen: Die seltsame Verwandlung des Staatsführers Gaddafi vom Terroristenhotelier zum Geiselwohltäter
Ivan Denes

Am 1. September 1969 putschte eine Obristen-Junta der libyschen Streitkräfte und stürzte in einer blutlosen Revolution den greisen König Idris. Ein Beduine, Oberst Muammar el Gaddafi, stand an der Spitze der Junta und 31 Jahre später steht er noch immer als dienstältester – bis zum heutigen Tag informeller! – Staatschef der arabischen Welt an der Spitze der "Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Jamahiria". Diese, für den westlichen Menschen recht unübersichtliche Staatsform – das Land wird von "Volksbüros" regiert, die pyramidenartig aus einer vermeintlichen Basisdemokratie hervorgehen – ist eine ganz persönliche Erfindung des Revolutionsführers Gaddafi. Ministerien, aber auch Botschaften im Ausland heißen "Volksbüros". Wobei die Person Gaddafi ebenso wenig transparent bleibt wie seine Schöpfung – die gegenwärtige Staatsform Libyens. Und unberechenbar ist er auch.

Seit seinem erfolgreichen Einsatz für die Befreiung der Geiseln – einschließlich einer Göttinger Lehrerfamilie – der islamistischen Abu Sayyad-Terroristen auf der philippinischen Insel Jolo, die Gaddafi großzügig mit Dollarmillionen freikaufte, ist der Mann, der im Beduinenzelt im Hof seiner Residenz wohnt, wieder in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit gerückt.

Gaddafi war von Anfang an eine schillernde Figur auf der internationalen Szene, eine Persönlichkeit voller innerer Widersprüche, dessen Charisma, Willenskraft und Standfestigkeit von Anfang an nicht seiner primitiven, von antiwestlichem und antizionistischem Haß bestimmten Weltanschauung entsprachen. Der aus der Tiefe der Wüste aufgetauchte Beduine konnte seine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem Abendland nie ablegen. So forderte er einmal, Anfang der siebziger Jahre, in einem denkwürdigem Spiegel-Interview, daß alle Straßenschilder im Westen doppelt beschriftet werden – der Straßennamen soll nicht nur in lateinischer Schrift, sondern auch mit arabischen Lettern ausgeschrieben werden weil die arabische Kultur ja gleichberechtigt mit dem Abendland in der Geschichte dastehe. Inspiriert von Mao Tse-tungs "rotem Büchlein", verfaßte Gaddafi ein "grünes Büchlein", in dem er seine politischen Visionen zusammenfaßte, die er dann auch in konkrete Politik umzusetzen versuchte, angefangen mit seinen Bemühungen für die Schaffung eines panarabischen Staates bis zur Unterstützung terroristisch-revolutionärer Bewegungen quer durch die Welt.

Gaddafi versuchte Staatenunionen zu zimmern – mit Ägypten, mit Syrien, mit Tunesien – und scheiterte an den jeweiligen nationalen Interessen. Er unterstützte effektiv, mit Geld, Waffen und militärischer Ausbildung, die radikalsten Palästinenserorganisationen gleichermaßen wie die Irisch Republikanische Armee (IRA) und die islamistische Moro-Befreiungsfront der Philippinen. Es gab kaum einen Staatsstreich auf dem afrikanischen Kontinent, in dem er nicht mitgemischt hätte. Er marschierte in den Tschad ein und versuchte den nördlichsten Teil des Nachbarlandes zu besetzen. Er bewaffnete die libyschen Streitkräfte bis zu den Zähnen mit sowjetischen Waffen. Westliche Nachrichtendienste haben handfeste Erkenntnisse gewonnen, daß Gaddafi – nicht zuletzt mit erkaufter deutscher Technologie – eine unterirdische Fabrik für die Herstellung chemischer Kampfmittel eingerichtet hat. Gaddafi läßt sich von einer gut ausgebildeten weiblichen Leibgarde beschützen (sie diente als Modell der weiblichen Karatekämpferinnen aus den James Bond-Filmen!). Einmal machte er Urlaub auf den Balearen, mietete für sich und seine Gefolgschaft ein ganzes Hotel, erschien als Frau verkleidet und ließ die gesamte Bettwäsche des Hauses ersetzen – aus Angst vor einem Giftanschlag. Gaddafi kaufte mehrere Tonnen des berüchtigten tschechoslowakischen Sprengstoffes Semtex und versorgte damit – per diplomatischem Gepäck – Terrororganisationen in aller Welt. Der Anschlag auf die Berliner Diskothek "La Belle" veranlaßte den US-Präsidenten Ronald Reagan zu einem Luftangriff auf Libyen, dem Gaddafi persönlich nur knapp entging. Der Anschlag im Dezember 1988 auf einen PanAm-Jumbo, der mit dem Verlust von 270 Menschenleben über der schottischen Ortschaft Lockerbie abstürzte, löste dann internationale Sanktionen aus, die Libyen weitgehend isolierten und die Wirtschaft des ölreichen Landes in eine Dauerkrise brachte.

Elf Jahre lang widersetzte sich Gaddafi den westlichen Forderungen, zwei Mitarbeiter des libyschen Geheimdienstes auszuliefern, die verdächtigt werden, den Koffer mit der tödlichen Fracht an Bord des Lockerbie-Jumbos geschmuggelt zu haben. Erst 1999 gab er schließlich nach.

Gaddafi, nunmehr 58 Jahre alt, scheint sich von dem Paten aller Terroristen der Welt langsam in einen Friedensstifter umzuwandeln. Er vermittelte am Horn von Afrika zwischen den tödlich verfeindeten Staaten Äthiopien und Eriträa gleichermaßen wie im sudanesischen Bürgerkrieg (in dem er aber zunächst seine Luftwaffe an der Seite der Regierungstruppen eingesetzt hatte!) oder im zentralafrikanischen Unruheherd Kongo.

Und nun der Samariter-Auftritt des Gaddafi-Sohnes Saif al Islam al Gaddafi auf den Philippinen. Es gehört jedoch zu den Paradoxen seines Charakters, daß er die Bedingung stellte, die befreiten Geiseln sollten zum Dank für den Freikauf ihren Heimflug über die libysche Hauptstadt Tripolis antreten, er aber erschien persönlich bei der Zeremonie nicht. Ein Gesinnungswandel zeichnet sich in den letzten Jahren ohne Zweifel bei Muammar el Gaddafi ab, aber es gibt überhaupt keine Garantie bei einem solch instabilen, emotionsbedingten Charakter, daß es keine "Gegenwandlung" geben wird.

Im Inneren des Landes behielt der Revolutionsführer jedoch den eisernen Griff und erstickte blutig jeden Versuch, seine Macht anzutasten. Im östlichen Teil des Landes mit Schwerpunkt in Bengasi – ein Ortsname der bei der älteren Generation mit Sicherheit die Erinnerung an die Kämpfe des deutschen Afrika-Korps unter Feldmarschall Erwin Rommel weckt – entwickelte sich in den letzten Jahren eine islamisch-fundamentalistische Untergrundbewegung, die bis in die Reihen des Offizierskorps reicht. Es kommt immer wieder zu Unruhen, die blutig enden, besonders bei Fußballspielen. Die Schlachten am Rande des Fußballfeldes wurden zum politischen Katalysator für die Opposition, seitdem ein anderer Gaddafi-Sohn, Saadi (im Volksmund "Hooligan" genannt), ein manischer Fan, mit Hilfe des Geheimdienstes die Fußballspiele zugunsten seiner bevorzugten Mannschaft (sie heißt "Beida") zu fälschen begann – ähnlich wie seinerzeit Stasi-Chef Erich Mielke "seinem" BFC Dynamo zu Sieg verhalf.

Ob und wie lange Gaddafi sich halten wird, weiß niemand. Ob er eines Tages beschließt, endgültig in eine Wüstenoase zurückzukehren, auf dem Teppich in seinem Zelt oder in einem Kugelhagel fundamentalistischer Fanatiker stirbt – wie weiland der von ihm bewunderte ägyptische Präsident Anwar el Sadat – ist ebensowenig vorauszusagen.


 
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