© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Der verborgene Fundamentalismus
von Alexander Barti

Die Frage nach dem Wesen des Konservativismus hat eine bewegte Geschichte. Gerade die Kreise, die sich gemeinhin als konservativ bezeichnen, sind immer wieder mit der Verortung ihrer Weltanschauung beschäftigt. Was man konservieren will, diese Frage wird selten – wenn überhaupt – gestellt. Was will man mit Werten anfangen, die letztlich doch nur reiner Materialismus sind? Viel angebrachter ist es daher, den Begriff des "Fundamentalismus" nicht nur einzuführen, sondern auch mit Sinn zu füllen.

Wenn man das Wort "Fundamentalismus" hört, denkt man unwillkürlich an die "islamistische Gefahr", die uns allenthalben als Drohritual vorgehalten wird. Dabei wird vergessen, daß der Fundamentalismus zunächst nur der Wunsch ist, das Wesentliche, die Substanz, einer Sache freizulegen. Bedrohlich ist dieses Streben nur für diejenigen, die sich vor der Tiefe einer Erkenntnis fürchten. Das Leben in dem bequemen "Paradies der Oberfläche" fände damit ein jähes Ende. In diesem Sinne gibt es natürlich auch im Abendland eine Vielzahl von Fundamentalismen, und von einer dieser verborgenen Kammern des europäischen Denkens soll nun die Rede sein.

Damit die Expedition in die Ewigkeit von Erfolg gekrönt wird, reicht es nicht aus, die gespenstischen Schutthalden einer Zeit fortzuräumen, die den Menschen befreien wollte, indem sie ihn auf das rein Menschliche reduzierte. Man muß weitergehen. Bis in das Innerste des Selbst. Und dann, wenn man noch einen Kern gefunden hat, der nicht verrottet ist, kann man mit der Transformation beginnen. Mit Intellektualismus, der ja immer nur Reflexion ist, hat dieser Prozeß freilich nichts zu tun.

Wenn man sich dem Thema zunächst begrifflich nähert, gibt es Schwierigkeiten mit dem Verständnis einer Sprache, die vor allem von der modernen Esoterik und der New Age-Szene besetzt ist. Das hängt auch damit zusammen, daß der "traditionale Fundamentalismus" seine Vertreter aus dem okkultistischen Milieu der Wende zum 20. Jahrhundert bekommen hat. Sein vielleicht bedeutendster Vertreter war der Franzose René Guénon, der sich schon in frühen Jahren aufmachte, um mehr zu finden als einen immer flacher werdenden Katholizismus. Nachdem er den Sumpf von Theosophie, Anthroposophie, Pseudo-Buddhismus und anderen modernistischen Geistesströmungen durchwatet hatte, glaubte er die Essenz des Seins gefunden zu haben: es war die "Tradition". Doch Vorsicht, wer meint, mit Tradition sei die folkloristische Überlieferung gemeint, der denkt nicht tief genung. Um den Unterschied zumindest begrifflich etwas zu fassen, wird daher in der deutschen Literatur "traditional" statt "traditionell" als Adjektiv benutzt.

In Büchern wie "Die Krisis der Neuzeit", "Das Symbol des Kreuzes" und anderen sezierte Guénon akribisch eine Welt, die immer schon war, die aber einer fortlaufenden Verdunkelung ausgesetzt ist. Guénon hat nie behauptet, etwas Neues, schon gar nicht eine neue philosophische Richtung, gefunden zu haben. In den dreißiger Jahren konvertierte er zum Islam, wurde Mitglied eines Sufi-Geheimbundes und siedelte nach Kairo über. Dort, in einem gesellschaftlichen Umfeld, das seiner Meinung nach viel näher zur Tradition stand als das Christentum der Neuzeit, blieb er bis zu seinem Tod. Einen regen Schriftverkehr führte er unter anderem mit Julius Evola (1898–1974), dem anderen Großen der traditionalen Doktrin. Er durchlebte einen ähnlichen Entwicklungsprozeß wie Guénon: nachdem Evola umfangreiche philosophische Abhandlungen geschrieben, Dada- Malereien und Theosophismus hinter sich gebracht hatte, fand er bei der Tradition seine geistige Heimat. Sein Hauptwerk trägt den programmatischen Titel "Revolte gegen die moderne Welt", in dem er die Lage der traditionalen Fundamentalisten so beschreibt: "Es gibt neben den großen Strömungen der Welt gewiß noch einige auf unverrückbarem Boden stehende Menschen. Es handelt sich um wenige, die keine sichtbare Gruppe bilden, um Unbekannte – fern allen Niederungen der Namhaftigkeit und Intellektualität der Zivilisierten. Sie verteidigen im verborgenen die Gipfellinien, sie gehören nicht dieser Welt an – und sind sie auch in der Welt versprengt und wissen sie oft nichts voneinander, so sind sie doch unsichtbar vereint und bilden eine unzertrennbare Kette der Tradition." In weiteren Werken wie zum Beispiel "Menschen inmitten von Ruinen" und "Den Tiger reiten" vertrat Evola einen militanteren Weg gegen die Dekadenz der Jetztzeit als Guénon. Für Letzteren waren die Kontemplation und der Abstand zu Welt wichtiger. Der Unterschied zwischen beiden wurde daher oft mit zwei Begriffen aus dem Sanskrit gekennzeichnet: der eine vertrat den Weg des Schwertes und repräsentierte das Prinzip des Kshatriya (Krieger), der andere hingegen war der weise Brahmane.

Wer sich heute mit dem traditionalen Fundamentalismus beschäftigen will, ohne von vornherein alles zu verteufeln, dem wird das aus zwei Gründen schwerfallen.

Der eine Grund ist die Nähe zu Faschismus und Nationalsozialismus, für den besonders Evola unverhohlen Sympathien hegte. Allerdings – und das wird gerne übersehen – hatte er auch Probleme mit beiden Systemen. Sie waren ihm zu plebejisch, zu bürgerlich und zu materialistisch, und er scheute sich nicht, diese Meinung offen kundzutun. Besonders die Rassenpolitik griff er vehement an. Die Qualität einer Rasse kommt für Evola nicht aus dem Genpool einer tierischen – und damit materialistischen – Züchtung, sondern der Geist tritt "von oben" in die Form ein; ein Vorgang, den man durch moderne Züchtung vergeblich zu steuern versucht. Die damaligen Machthaber waren für diese und andere Kritik nicht sehr empfänglich, so daß Evola in Deutschland bald mit einem Vortragsverbot und in seiner Heimat Italien mit einem Publikationsverbot kaltgestellt wurde. Natürlich gab es nicht nur Kritik. Gelobt wurde der unbedingte militante Heroismus in den mitteleuropäischen Systemen, die mit der Beliebigkeit des Liberaldemokratismus und den "Quatschbuden" der Krämerseelen gründlich aufgeräumt hatten.

Nach Auffassung der traditionalen Lehre haben sich die metaphysischen Kräfte im Laufe der Zeit aus der Welt der Menschen zurückgezogen. Nur noch vereinzelt, und ohne Ordnung einer zum Beispiel dynastischen Sukzession, kleiden sie sich in einen menschlichen Repräsentanten. Eng gekoppelt ist diese Auffassung mit der Lehre von den vier Zeitaltern, die man nicht nur in der indischen Mythologie findet. Damit bricht der traditionale Fundamentalismus mit der gesamten christlich-abendländischen Geschichtsauffassung. Nicht mehr der Fortschritt, aus dem Jammertal hin zu einer glücklichen Zukunft, wird propagiert, sondern die Lehre vom Niedergang. Demnach verdunkelt sich die Welt fortlaufend. Das Goldene Zeitalter (Krta-Yuga), in dem die Menschen mit "olympischen Qualitäten" ausgestattet den Göttern gleich sind, wird nach zyklischen Verfallsprozessen zum Finsteren Zeitalter. Dort, in dem Kali-Yuga der indo-arischen Mythologie, führt die Göttin Kali ein grausiges Regiment der Zersetzung. Es herrscht Chaos und Auflösung, der Sexus ist entfesselt, und die Schranken der Kasten sind zerbrochen. In dieser Endzeit herrschen nicht mehr Könige, also diejenigen, die tatsächlich königliche Qualitäten haben, sondern der Pöbel übt eine auf Emotionalität, Volksmenge und Sentiment gegründete Scheinherrschaft aus.

Mit diesem Szenario hat man ein Bild für die weitere Ächtung dieses Fundamentalismus: die Moderne wird von ihm nicht nur partiell, sondern radikal verworfen. Der Wertmaßstab ist dabei eindeutig: nichts, was "von unten" kommt, ist gut. Für die Sphäre der Politik bedeutet das, daß die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft ein illegitimer Aufstand des Dritten und Vierten Standes ist. Ob die Revolte von 1789, die "Freiheitskämpfe" von 1848 oder die "Befreiung" von 1919: im Lichte der Tradition sind sie allesamt satanische Früchte. Aber nicht nur die Revolten selbst, sondern vor allem auch alles das, was danach an politischen Systemen entstanden ist. Wer den 48er "Freiheitskampf" bejaht, bejaht damit auch den finstersten Bolschewismus; ob "Volksgemeinschaft", "Grande Nation" oder "Sowjetkollektiv" – am Werke sind immer die nivellierenden Kräfte. Traditionale Leitfiguren sind daher immer die Konterrevolutionäre, wie zum Beispiel Lothar Wenzelslaus Fürst von Metternich-Winneburg, der große Widersacher von 1848. Ein Postulat der bürgerlichen Gesellschaft, die Gleichheit, wird von dem traditionalen Fundamentalismus dahingehend erweitert, daß Gleichheit immer nur eine Gleichheit unter Gleichen sein kann. Diese Auffassung ist die Essenz einer in hierarchische Kasten differenzierten Gesellschaft. Konkret bedeutet das, daß die Priester sich hauptsächlich mit der Pflege ihres heiligen Rituals beschäftigen und nicht den Job einer "Integration von gesellschaftlichen Randgruppen" erledigen. Daß der Evolutionismus von der Tradition verworfen wird, versteht sich bei der umgekehrten Geschichtsmetaphysik von selbst. Solange die missing links des Darwinismus noch immer nicht gefunden sind, bleibt die fortschrittliche Lehre von der Entstehung des Menschen die Religion der Atheisten.

Der traditionale Fundamentalismus differenziert aber nicht nur das Staatswesen, sondern zeigt sich auch in der Geschlechterfrage reaktionär. Wenn wir bei der Geburt kulturell nicht geprägt sind, die geschlechtliche Ausdifferenzierung aber schon abgeschlossen ist, dann kann, man zumindest die überragende Bedeutung des Sexus erahnen. Und man wird verstehen, warum so erbittert auf dem Feld des Sexus gestritten wird. Die physischen Formen, also Mann und Weib, sind Ausdruck einer metaphysichen Qualität, die allerdings deformieren kann. Damit dies nicht geschieht, soll sich der Mann mühen, das Männliche zu verwirklichen, die Frau soll die Weiblichkeit leben. Ein Unwert ist also der verweiblichte "softe" Mann und die maskuline Garçonne. Mann und Frau werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als ein Wert an sich gesehen. Für die Moderne ist auch die Geschlechterdifferenz ein Greuel. Daher versuchen ihre Vertreter mit allen Mitteln, eine Vereinheitlichung durchzusetzen.

Die Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte hat sich auch zu einem Komplizen der Nivellierung gemacht. Sie hat die Frau nicht befreit, sondern ihr das Joch des Mannseins aufgebürdet. Anstatt für die Macht des spezifisch Weiblichen zu kämpfen, landeten die Emanzipierten bei der Vermännlichung – ein Umstand, den man nicht zuletzt an dem maskulinen Aussehen der Hauptprotagonistinnen entdecken konnte. Die neuere Generation der Frauenbewegung hat diesen fatalen Irrweg erkannt und fordert verstärkt die Rückkehr der Frau zur Weiblichkeit. Die Kurskorrektur wird den Frauen ohne Zweifel gelingen. Nur der männliche Mann wird seine Qualität immer weniger verwirklichen können. Damit tritt die Gesellschaft in eine Phase ein, die schon Bachofen mit dem Begriff der "Gynäkokratie" gekennzeichnet hat.

Über das Wesen der Geschlechter, dasnichts mit der Psychoanalayse zu tun hat, schrieb Evola, in Anlehnung an Bachofen und Otto Weininger, das Standardwerk: "Metaphysik des Sexus". Daß mit der Befreiung der Sexualität durch die Forderung nach Promiskuität nicht die Befreiung des Menschen, sondern eher seine Versklavung einhergegangen ist, wird inzwischen auch für den Normalbürger erfahrbar. Die Pornographie hat weite Teile der Freizeitbeschäftigung okkupiert. Mit der permanenten Erregung, die durch die Sexualisierung des Alltags eingetreten ist, schwindet die tatsächliche Erfahrbarkeit des Sexus. Echte Befriedigung, so kann man in einschlägigen soziologischen Untersuchungen nachlesen, tritt auch bei außergewöhnlichen Praktiken kaum noch ein. Gleichzeitig ist der Leistungsdruck in die Intimsphäre eingebrochen. Eine Flut von Lifestyle-Magazinen terrorisiert den modernen Menschen mit absurden Gebrauchsanleitungen für ein Erlebnis, das für ihn nicht mehr möglich ist. Die Frustration und Aggression der "befreiten Generation" und ihrer Nachkommen wird mit der fortschreitenden Nivellierung nur zunehmen.

Der Wirkungsradius des traditionalen Fundamentalismus ist noch wenig kartographiert. Während bis 1945 ein lebhafter, durchaus polemischer Diskurs in Europa geführt wurde, nahm das Interesse nach 1945 schlagartig ab. Das Nachdenken über den hierarchischen Staat gehörte von nun an in den Giftschrank der gefährlichen Machenschaften. Virulent blieb "die ewige Wahrheit" trotzdem. Sie erlebt gerade heute eine zaghafte Renaissance. In Italien und Frankreich gehört der Traditionalismus schon lange wieder zum angefeindeten intellektuellen Diskurs. Auch in Ost-Mitteleuropa haben sich Studienzirkel gegründet. Die heutige Ignoranz des traditionalen Fundamentalismus seitens der sogenannten Konservativen ähnelt durchaus der völkischen Kritik der Nationalsozialisten vor einem halben Jahrhundert. Der materialistische Ursprung des Dritten Reiches – und der modernen Konservativen – wird dadurch besonders deutlich.

Im Zeitalter der Massen scheint ein "Pathos der Distanz" nur für den apolitischen Menschen vorstellbar. Daher kann man den traditionalen Fundamentalismus auch als Aufforderung sehen: Werdet keine zerfließende Bewegung sondern werdet stoische Achsen, die in den Himmel weisen.

 

Alexander Barti ,28, Diplom-Politologe, hat in München, Budapest und Berlin studiert und arbeitet derzeit als Dozent an der Universität in Budapest.


 
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