© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Zeitschriftenkritik: Marxistische Kritik
Liebgewordene Feindbilder
Werner Olles

Marxisten haben es in dieser Gesellschaft nicht leicht. Manchmal liegt das aber auch daran, daß sie bis heute nicht in der Lage sind, die falschen Prognosen von Marx auch als solche zu benennen. Statt dessen versucht man sich philosophierend, psychologisierend und politisierend den neuen Konflikten moderner Klassengesellschaften zu nähern, verwechselt dabei aber notorisch den Unterschied zwischen Wesen und Dasein und zwischen Sein und Dasein des Menschen. So entsteht dann eine im Letzten aussichtslose Strategie des ungebrochenen Fortschritts in der Aufklärung und in der Revolution.

Pflicht und Chance eines (selbst)kritischen Marxismus wäre es jedoch, den Menschen gegen den Zangenangriff von moderner Wissenschaft, Hoch-Kapitalismus und UN-Menschenrechtsideologien samt Interventionsgebot zu verteidigen. Davon ist aber keine Rede, denn dies würde ja bedeuten, als Marxist sowohl Revolutionär als auch Konservativer zu sein. Da ist es schon leichter, gute, alte Feindbilder wie "Religion" und "Nationalismus" zu pflegen und sich dabei auch noch auf den zu Unrecht vergessenen Philosophen Ludwig Feuerbach zu berufen. Aber indem die kommunistischen Autoren der Marxistischen Kritik mit seiner Hilfe "mit idealistischen Konstruktionen und Spekulationen, an die sich die unterdrückten Klassen klammern" aufzuräumen gedenken, sind sie bereits selbst dem idealistischen Konstrukt des absoluten Wissens über den Lauf der Geschichte verfallen. Man entwickelt am subkulturellen Reißbrett oder im Proseminar einen sich unabhängig deklarierenden Marxismus, der relativ schnell an seine Grenzen gerät, weil sein Revolutionsbegriff substanzlos ist, sein politisch-ökonomisches Programm unklar und das, was Marx und Engels als "Dialektischen Materialismus" bezeichneten, nichts als radikale, aber letztlich unrealistische Phantasien sind. Bernard Willms hat einst in seiner Schrift "Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts" darauf hingewiesen, daß die große Faszination der Revolution längst gestorben ist, banalisiert von jener Erkenntnis, daß jegliche menschliche Existenz bereits in revolutionärem Boden wurzelt.

Daß "kritische Marxisten" Willms nicht lesen, kann man ihnen vorwerfen, man kann es aber auch lassen. In den zwanziger Jahren hat ein intellektueller Marxismus sich solchen Fragen immer wieder gestellt, nicht laut und pathetisch, sondern leise und mit dem zögernden Gestus der Resignation. Solchen Bewertungen will man sich heute freilich entziehen, dabei schreit die gesamte Marxistische Kritik geradezu nach Gottes Erbarmen. Und jenem diskreten Charme der Bourgeoisie hat sie sowieso nicht viel entgegenzusetzen, denn das Leben ist längst nicht so aufregend, wie man hier glaubt, dafür ist es wahrer. Solange die "Kritik" nicht die Kraft zur "Selbstkritik" impliziert, ist die Vermutung, daß sich außer ein paar Eingeweihten kaum jemand dafür interessiert, wohl nicht ganz unbegründet.

 

"Marxistische Kritik – Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis", erscheint vierteljährlich. J. Horn, Roter Steinweg 6, 98744 Lichtenhain. Einzelpreis 2,50 Mark, Jahresabo 15 Mark


 
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