© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Blicke auf ein Facettenauge
Peter Sloterdijk hielt in Weimar den Festvortrag zum Nietzsche-Jubiläum
Matthias Thiemel

Eine Analyse könnte kaum zutage förden, wieviel Literaten, Philosophen, Psychologen Friedrich Nietzsche verdanken, ob sie ihn und seinen Namen nun jemals auf ihre Fahnen geschrieben haben oder nicht. Nietzsches Strahlkraft wird für Denkende noch lange andauern, "seine" Schatten, über Europa wenigstens, sind noch längst nicht vorüber gezogen.

Immer geht es bei Nietzsche um uns; gottlob gehört er nicht zu den abstrakten Denkern. Er widmete sich den nächsten Dingen ebenso wie den fernen und großen, ja den größten Themen. Er fischte mit ungeheuren Netzen, Kategorien, die nie nur-akademisch und die niemals Selbstzweck waren. Und obschon Nietzsche in jeder Lebensphase mit anderen hantierte, entgingen ihm die dicken und dicksten Fische nicht. Er stieß die kleinsten und die größten Türen auf, Pforten, Portale, war zugleich Forscher und Magier, konfessionsloser Priester, waffenfreier Krieger, leidenschaftlicher (und wahrlich couragierter) Verkünder, er verfügte über Mikroskope des Denkens ebenso wie über Fernrohre.

Peter Sloterdijk versuchte sich in Weimar selbstredend weder an einem Aufriß des Lebens noch an einem Überblick über das Werk Nietzsches. Er hatte sich für eine höchst perspektivische Sicht entschieden, begann mit einer Kette von Fragen, vereinte in seinem langen Vortrag Tugenden wissenschaftlicher Präzision und Methode, befleißigte sich gewohnt souverän einer fulminanten, manchmal vielleicht nur scheinbar genialischen Sprache – und machte Sprache, Sprachgebrauch und dessen narzißtische Komponente, die Selbstbejahung des Sprechenden, zu einem Gravitationszentrum seines Gegenstandes Nietzsche. Sloterdijks rhetorische Brillanz ist ihrerseits vermengt mit einer Eleganz, welche die Begriffe teils überspitzt, teils allzu unorthodox zusammengezwungen gebraucht. Schöpferisch-nachdenkend, rückbezogen vorwärtsblickend wählte er einen Blickwinkel, den er betitelte mit: "Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes ’Evangelium‘".

Vielleicht ist die Frage danach, ob ein Fest- oder Gedenkredner, dem es um Nietzsche gehen soll, seinem Gegenstand auch gerecht geworden sei, eine falsch gestellte Frage! Warum Sloterdijk jedoch ausgerechnet Nietzsches dem Titel und dem Hörensagen nach wohl populärstes Buch, "Also sprach Zarathustra", als Referenzschrift wählt und deren eminent ethischen Impuls nicht fokussieren will, bleibt sein Geheimnis; der jüngst für seine Nietzsche-Biographie ausgezeichnete Rüdiger Safranski – und bei weitem nicht nur dieser – sieht im "Zarathustra" vielleicht "sein schwächstes Buch". Aber Sloterdijk stößt sich nicht von breitgetretenen Ufern ab, sondern interessiert sich für die Abweichungen von der doxa.

Er beginnt seinen hochgespannten, angenehm vorgetragenen, anspruchsvoll konzentrierten Bogen, der zur Sprachidee in Nietzsches "Zarathustra" führen sollte, indem er ein Evangelienbuch des späten ersten Jahrtausends beleuchtet, in dem der rheinfränkische Priesterdichter Otfried von Weissenburg seine volkssprachliche Nachdichtung des Neuen Testaments rechtfertigt derart, "daß im Bild der gloria Francorum die Verbindung von Gottesverherrlichung und Reichspoetik nicht mehr fehlt ... Wer lobt, wird lobenswert, indem er am Glanz des Eulogien-Objekts partizipiert."

Eine spätere Station – Evangelien-Verbesserung – im Rückblick Sloterdijks hat ihren Ort in den Vereinigten Staaten von Amerika und ihren Verfasser in Thomas Jefferson, der Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts Minister, Vizepräsident und Präsident war; im Herrensitz in Virginia widmete dieser sich "der Abrundung des Bildes, das er der Nachwelt von sich zu hinterlassen gedachte": Mit Schere und Klebstoff fertigte er eine "Jefferson-Bibel" an (letzte Auflage Boston 1989), im Schoß eines Staates und einer Gesellschaft, "zu deren Gründungsbedingungen es gehörte, den Abbau von kulturellen Hemmungen gegen die Verwendung von erhöhenden Superlativen im demokratischen Selbstbezug so weit wie möglich voranzutreiken". Jefferson tilgte aus den Evangelien, was er unpassend oder überflüssig fand; er habe "den literarischen Imperativ der Neuzeit: Wo Legende war, soll Novelle werden!" befolgt. Die Frage nach der Anwendung christlicher Gebote oder auch nur Nächstenliebe gegenüber Ureinwohnern, Rothäutigen, Indianern wird nicht gestellt …

Nietzsche, Pastorensohn, versuchte nie, die mosaischen Tafeln oder die Evangelisten zu verbessern oder zu redigieren, sondern ging nach 1880 verstärkt daran, sie durch neue Tafeln zu ersetzen. Nachdem die Menschen des 19. Jahrhunderts Göttliches mmer präziser getötet hatten, nachdem der äonenlange Zentralwert, Gott, eigentlich abgeschafft war, mußte alles sich wandeln; fehlen Ziel und Ausrichtung, der Schlußstein gewissermaßen, hält kein Teil der Kuppel mehr stand, die Bestandteile verlieren die Verbindung.

Sloterdijk richtet den Blick aber weniger hierauf als auf Nietzsches Entlarvung alter Lehren als "Weltverleumdung seitens der Zukurzgekommenen", und legt, parallel zu Nietzsche, deren "misologischen Kern" frei, welcher, zum Beispiel, das Selbstlob verboten hatte. Die alten Evangelien als Handbuch für das Schlechtreden der Welt und des Weltlichen "durch die Advokaten des Nichts, die Beleidigten, Rachsüchtigen und Bequemen"!

Nietzsche formuliert ein neues Jasagen – radikal. Die Texte des Paulus hatte er "Dysangelien" genannt. Später sprach Eugen Rosenstock-Huessy von Marx, dem Arier-überzeugten Gobineau, von Nietzsche und Freud als den "vier Dysangelisten der modernen Entgeisterung" – "wir würden heute etwas nüchterner von ihnen als den Gründern von Diskursspielen über das Reale sprechen", fügt Sloterdijk trocken an. Die "Fröhliche Wissenschaft" findet der Redner "in Wahrheit die hoffnungsloseste, die je lanciert worden" sei. Das ist zweifellos ebenso übertrieben wie Rüdiger Safranskis Diktum, Nietzsches "Fröhliche" sei "sein größtes Buch". Nietzsches zeitweilige Haltung und späteres Selbstverständnis, der "Cynismus", wird vom Verfasser der "Kritik der zynischen Vernunft" flüchtig gestreift.

Wichtiger ist Sloterdijk offenbar der Individualismus, wie er ein, zwei Generationen vor Nietzsche erfunden worden war, ohne daß er allerdings Nietzsches Konzept von "Ich" und "lndividuum" detaillierter auszuschöpfen sich anschickt. Er begreift Nietzsche als Ereignis, als "Potenzierung des Zufälligen zum Schicksalhaften ... oder wie man heute sagen würde (als) ein Trend-Designer. Der Trend, den er verkörperte und formte, war die individualistische Welle, die seit der Romantik unaufhaltsam durch die bürgerliche Gesellschaft ging und durch sie zu gehen nicht aufhört, in stetig wechselnden Bedürfnissen mit allem, was die moderne Welt ausmacht: mit Fortschritt und Reaktion, mit linken und rechte Politikprogrammen, mit nationalen und transnationalen Motiven, mit maskulinistischen, feministischen und infantistischen Projekten, mit technophilen und technophoben Gesinnungen, mit asketischen und hedonistischen Moralen, mit avantgardistischen oder konservativen Kunstkonzepten, mit analytischen und kathartischen Therapien, mit sportlichen und unsportlichen Lebensstilen, mt der Leistungsbereitschaft und Leistungsverweigerung ...". Individualismus ist bindungsfähig nach allen Seiten, und das birgt Gefahren – wie die meisten "Errungenschaften" der Moderne.

Konformismus bedient sich nicht oder zu wenig des eigenen Verstandes. Sloterdijk schießt die späte Leuchtkugel ab: "Unsere durchschnittlichen Gedanken und Gefühle sind allesamt [?!] made in USA, nicht made in Sils Maria." Der Redner bindet mit reicher Rhetorik, die nie eine eigentümliche Kontinuität verliert, verschiedene Zeitebenen aneinander, und es ist schwer, ein Abbild davon zu geben.

Nietzsches Selbstkommentare, in denen er sich erhebt, verherrlicht, seine eigene Bedeutung für Gegenwart und Zukunft verabsolutiert, befinden sich in enger Nachbarschaft zur Peinlichkeit; die Selbstaffirmationen (auf der Ebene seiner Schriften), zumal die der 1880er Jahre, zwangen selbst die nachgeborenen Nietzsche-Begeisterten dazu, eine – wie der Redner griffig sagt – "Schutzbrille" anzulegen. Sloterdijk hält den Finger auf diese Wunde. Jedenfalls, Nietzsche ging keinen bequemen Mittelweg, beging keine faulen Kompromisse; wenig interessierten ihn Meinungen, vielmehr, viel mehr: "Emanationen" und Ekstasen; Sloterdijk greift in eins Metapher und Symbol der Sonne auf, als Stern, welcher durchbohrt, durchdringt, und angeblich zugleich "danach fiebert, durchbohrt zu werden"; Nietzsche erscheint ihm auf intellektueller Ebene als "bisexuell" (man könnte es weniger effekthaschend ausdrücken: androgyn).

Nach ausführlicher Rede schließt Sloterdijk nicht mit der expliziten Werbung, Nietzsche zu lesen, sondern mit einer Inversion: "Wo die Welt alles wurde, was man nicht wecken darf, gibt es keinen Verfasser mehr (…) Wir müssen uns den aufhörenden Autor als einen glücklichen Menschen vorstellen."

Das wirkt wie eine Schrecksekunde; solches Glück stellt uns hier und jetzt aber nicht zufrieden. Nietzsche begreifen heißt selbst Courage ergreifen, und durch alle Zeichen von Areligiosität, nein: Atheismus hindurch die Glaubens-Sinne für religio pflegen, obendrein leidenschaftlich empfinden, entschieden wollen, emphatisch sprechen. Lektürezeit mit Nietzsche ist, und hiermit entfernen wir uns verbal von Sloterdijk, "eine Art Säurebad für jedes verklumpende, ideologisch werdende Denken", Reflex eines "Genie(s) der Geistesgegenwart und Wachheit" (Rüdiger Safranski)! Nietzsches basale Voraussage ist im Grunde nicht überholt worden. Allein, der Auftritt des tollen Menschen, den Nietzsche zur Zeit der Konzeption seines "Zarathustra" den "Tod Gottes" verkünden läßt, wurde zunächst als ein geistreicher Einfall Nietzsches aufgefaßt "und keineswegs ernst genommen, eine breitgetretene, in großen Büchern umständlich-akademisch erörterte Binsenweisheit": So mußte Franz Vonessen (ein zu wenig bekannter, dabei sicher einer der klarsten und sprachmächtigsten Philosophen des letzten Vierteljahrhunderts) dem Satz Nietzsches, dieses "ungeheure Ereignis", wie Nietzsche den behaupteten Tod Gottes umschreibt, sei "noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen", lapidar hinzusetzen: "die Nachricht inzwischen zwar wohl, aber noch längst nicht, immer noch nicht, ihre Bedeutung. Dabei war von Anfang an klar, sonnenklar, worin sie bestünde."

Sloterdijks Nietzsche-Vortrag verkörperte eine fast allzu frei schwebende, dabei geschickt argumentierende, leichthändig verknüpfende Position. Um Nietzsche in den Blick zu bekommen, braucht man bündelnde, weit blickende, scharfe Augen, und auf den Prozeß selbstdenkenden und mündigen Zusammen-Lesens disparater Stellen kommt es mehr an als auf geschichtliche Linien und Einordnungen. Sehr bewußt verfugte Nietzsche Widersprüche nicht nur gegen außen und gegen die Welt, sondern auch gegen innen und innerhalb seiner eigenen Wendungen. Journalistendeutsch verabscheute er; sein eigenes Deutsch besticht, weil es unbestechlich geschliffen ist.

 

Dr. Matthias Thiemel studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaften. Lehraufträge an der Pädagogischen Hochschule, der Musikhochschule und der Universität Freiburg.


 
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