© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/00 01. September 2000

 
Die trostlose Nation
Statt sich über zehn Jahre Einheit zu freuen, jammert die politische Klasse
Michael Oelmann

Was ist nur mit den Deutschen los? Zehn Jahre Einheit, zehn Jahre Freiheit, zehn Jahre friedliche Revolution – und nichts als Krampf beherrscht die öffentliche Gemengelage im Jubiläumsjahr. Ausgelassen feiern darf der Deutsche wohl nur noch auf Mallorca. Daheim, in deutschen Landen, herrscht chronischer Griesgram. Die feuchten Augen im Moment der Wiedervereinigung sind den feuchten Händen des antifaschistischen Aktionismus im Sommer 2000 gewichen.

Statt eines Deutschlands in Feierlaune – Ausnahmezustand wegen kurz bevorstehender Machtübernahme von einer Handvoll Rowdies aus dem Osten. Statt Liedern und Konzerten zum Jahrestag – "Rock gegen Rechts" mit Herbert Grönemeyer. Peter Gauweiler, einer der wenigen Besonnenen im Lande, spricht, von einem Liegestuhl in Südfrankreich aus, in der Welt am Sonntag treffend von einem "Alarmismus", den er mit dem Wirbel um Brent Spar oder Goldhagen vergleicht. Der Unterschied indes: Die moralische Hyperventilation füllt derzeit kein Sommerloch, sondern eine Zeit, die dem freudvollen Erinnerns um den 3.Oktober 1989 gehören sollte.

Man soll nicht immer nach den anderen blicken, aber man stelle sich vor, was in einer vergleichbaren Fest-und-Freude-Situation in Frankreich los wäre, in England oder Amerika: Die Champs-Elysées – Felder bunten Jubels, festliche Paraden durch London, Konfettiregen auf der Wall Street. Oh je, oh weh – und Deutschland grämt sich.

Wer hätte gedacht, daß nach zehn Jahren Wiedervereinigung das Land – der veröffentlichten Meinung zufolge – erneut in einem schweren Kampfe steht? Nur heißt der Gegner diesmal nicht der real existierende Sozialismus, sondern die virtuell konstruierte braune Gefahr. Von einer etwaigen Normalisierung des deutschen Befindens, von der nicht wenige nach der Vollendung der Einheit zu träumen gewagt hatten, keine Spur. Das versteht im Ausland längst keiner mehr. Und die von braunen Horrorszenarien geplagten Menschen auf der Straße wohl auch nicht.

Ist es Zufall, daß der kalkulierte Fascho-Hype gerade jetzt das Land beherrscht, wo die Einheit Thema der Zeitungen, Sender und Reden sein müßte? Nein, Zufall nicht, eher Versagen auf der einen und Absicht auf der anderen Seite. Versagen bei den Institutionen, die eigentlich in der staatstragenden Verpflichtung stünden, einheitsstiftend zu wirken. Versagen auch bei der bürgerlichen Rechten, und vornean der CDU.

Dabei hätte die CDU die große Chance, das Thema Wiedervereinigung positiv zu besetzen. Dazu bräuchten sie nicht einmal das Denkmal Kohl. Statt dessen liegt die Partei paralysiert hernieder, und das Gezerre um Kohl am 3. Oktober oder nicht Kohl am 3. Oktober ist nur das schaurige Schauspiel einer orientierungslosen Parteiführung. Angela Merkel, man muß es deutlich sagen, kann gegen die machiavellistischen Strategien von Schröder und Müntefering in keiner Weise mithalten. Statt eine offensive Gegenposition gegen die SPD zu formulieren, rennt Merkel jeder Lunte Schröders hinterher, nicht ohne zielsicher in jede gestellte Falle zu treten. Und die Kampagne "gegen Rechts" ist eine Kampagne zur Verunsicherung des bürgerlich-konservativen Lagers. Union und FDP sollen politisch korrekt auf Kurs gebracht werden und die Politik der Bundesregierung in puncto Einwanderung künftig widerstandslos hinnehmen.

Langsam freilich rührt sich Widerstand aus den konservativen Zellen der CDU. Zwar wird ein Roland Koch selbst innerparteilich ordentlich abgewatscht, wenn er eine maßvolle Einschätzung des Rechtsextremismus einfordert. Aber auch Steffie Schnoor, CDU-Landeschefin in Mecklenburg-Vorpommern, traut sich und bescheinigt der Bundesregierung, den Rechtsextremisten eine Bedeutung zuzuschreiben, "die sie gar nicht verdient haben". An einem "Bündnis gegen Rechts" wolle sich die Nordost-CDU nicht beteiligen, weil der Begriff "rechts" zu unscharf sei. Man könne sich nicht gegen Gesinnungen wenden, sondern gegen Gewalt.

Derlei klare Worte tun bitter not; schlimm genug, daß sich die CDU in weiten Teilen von der Hysterie anstecken lassen hat. Immerhin setzt die institutionelle Linke alles daran, mit der staatlichen Restriktion gegen jugendliche Gewalttäter gleich auch an den Grundpfeilern der demokratischen Konstruktion herumzufeilen und allem, was nicht links ist, den Kehraus zu machen. Seltsame Gefühle beschleichen einen da, wenn zum zehnten Jahrestag des Sieges über die Unfreiheit Blockwartmentalität, Schnellgerichte und Berufsverbote Einzug in Deutschland halten.

Schröder freilich hält sich schadlos, in- dem er sozusagen auf formell-diplomatischer Ebene seinen Einheitsobulus abarbeitet. So seine Sommerreise durch Deutsch-Südwest ... pardon, durch die neuen Länder. Ein wenig lächeln, schauen, und natürlich das unvermeidliche Mahnen vor "Rechts". Die Kanzlerlandverschickung in den Osten mutet an, als handle es sich um ein fernes Kolonialgebiet. Die Financial Times Deutschland titelt gar "Reise durch den Streichelzoo". Schröder dürfe dort "endlich wieder etwas bewegen": er schüttele nämlich "jede Hand, die sich ihm entgegenreckt".

Von substantieller Tätigkeit ist bei der technischen Geschäftigkeit des Kanzlers indes nichts zu spüren. Warum nur ist der politischen Klasse das Gespür für Volksnähe im besten Sinne abhanden gekommen? Warum keine große Rede von Schröder, gerichtet an Menschen, und nicht an Fernsehkameras? Warum keine Gespräche mit den Bürgerrechtlern von vor zehn Jahren?

In einem gleicht sich also noch die deutsche Befindlichkeit heute mit der vor zehn Jahren. Damals wie heute herrscht ein krasser Gegensatz zwischen Volk und politischer Führung, damals wie heute fehlt die innere Einheit. 1989 haben die mutigen Deutschen in der Vollendung der friedlichen Revolution mit der Wiedervereinigung etwas erreicht, was die Westpolitiker – samt Kohl übrigens – längst nicht mehr auf ihrem Wunschzettel hatten.

Heute mutet die politische Führung den Deutschen ein Trauerspiel zu, daß andersherum auf keinerlei Zustimmung bei den Menschen stößt. Die hätten – völlig unextremistisch – gewiß lieber ein tolles Fest mit wehenden Fahnen und Sekt und Freude. Endlich einmal normal sein! Zu Recht. Das geschichtliche Glück, daß die Mutigen in der DDR mit der Vollendung der Einheit erstritten hatten, sollte in der zehnten Wiederkehr Grund zu Jubel und Freude sein. Das sollten sich die Deutschen von ihrer politischen Klasse auch nicht vermiesen lassen. Na dann: Prosit, Deutschland.


 
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