© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Spanien: Am 30. August findet die weltweit größte Tomatenschlacht statt
Kniehoch im roten Matsch
Günter Schenk

Alles klebt. Haare, Hose und Hem den, sofern man noch eins anhat. Zehntausende schwitzen, stinken wie die Möpse. In Augenhöhlen und Nasenlöchern hängen rote Fetzen, die Reste von 140 Tonnen Tomaten. Zermatscht von einer wilden Horde meist junger Leute, die einmal jährlich zur weltweit größten Tomatenschlacht pilgern. Zur Tomatina ins spanische
Buñol, ein kleines Städtchen vor den Toren Valencias.

Fast kniehoch steht die rote Tunke in der Stadt, wälzen sich Hunderte im Saft der Tomaten, Mädchen und Burschen aller Nationen. Doch was manchem wie die Apokalypse erscheint, ist nichts anderes als ein modernes Heiligenfest, eine Feier im Namen des Stadtpatrons. San Luis Beltran heißt er in Buñol. Ein Dominikanermönch aus dem benachbarten Valencia, der im 17. Jahrhundert für seine Missionsarbeit in Kolumbien heiliggesprochen wurde. Und natürlich gibt es ihm zu Ehren neben der Tomatenschlacht jede Menge Gottesdienste und Prozessionen, Konzerte und Belustigungen – eine ganze Woche lang.

Die Wurzeln der Tomatina reichen ins Jahr 1944, als junge Leute im Namen des Heiligen Gemüse zerdepperten. Ein Trompeter, erzählt man sich in Buñol, sei die erste Zielscheibe gewesen. Andere meinen, die Jugend hätte damals gezielt auf Urlauber aus Madrid geworfen. Manche Historiker halten die ersten Attacken gar für die Antwort auf die damals verbotenen Stierkämpfe. Wie dem auch sein, aus dem Späßchen von einst ist längst eine Schlacht geworden, ein Stück gelebter Anarchie. Verständlich, da das Fest zu Francos Zeiten verboten war. 1957 hatten die Behörden die Tomatina erstmals untersagt. Zum Trotz trugen die Bürger einen mit Tomaten gefüllten Sarg durch die Gassen ums Rathaus.

Heute ist die Tomatina touristisches Aushängeschild, ein Fest des Überflusses, das die kleine Stadt weltweit bekannt gemacht hat. Umgerechnet über dreißigtausend Mark läßt sich Bunol das Spektakel Jahr für Jahr kosten. Ein Augenschmaus für die Medien, die regelmäßig in Kompaniestärke anrücken. "Die Tomatina", weiß Minerva Gomez, die Bürgermeisterin, "ist längst ein spanischer Markenartikel." Auch der Termin, wie immer der letzte Mittwoch im August. Morgens gegen zehn kommt Leben in die tristen Mauern, in die lieblos nebeneinandergeschachtelten Häuser. Rathaus und Kirche sind Zweckbauten. Ringsum kahle Wälder, trockene Felder, verstaubte Straßen, ein stinkendes Flüßchen. Kein Ort zum Verweilen, erst recht nicht zum Bleiben. Die großen Hotels und Pensionen stehen Richtung Mittelmeer. Vor allem in Valencia, vierzig Autominuten östlich.

Vor der Schlacht wird der Kampfplatz bestellt. Geschäftsleute nageln ihre Läden zu, Mieter verrammeln ihre Fenster. Plastikplanen decken Türen und Fassaden. Und überall gehen Polizisten in Stellung. Ordnungshüter, die Krieger und Kriegsbeobachter auf die Parkplätze am Stadtrand leiten. Fast 35.000 sind es inzwischen, die jährlich mit Bussen und Bahnen anreisen. Dazu jede Menge Touristen, Vergnügungssüchtige von der Costa Blanca. Engländer vor allem, aber auch Australier, Schotten, Deutsche, Amerikaner und Japaner. Für sie hat die Tomatina zum Leidwesen der Einheimischen längst Kult-Charakter. "Früher", erzählt einer der Kämpfer, "war alles besser, kannte jeder jeden. Neben dir stand der Feind. Ihm hast du eine Tomate übergebraten – und der warf eine zurück. Heute schaust du auf den Kampfplatz und kennst keinen mehr."

Langsam wird es enger in den Gassen. "Tomate, Tomate, Queremos tomate." Gebt uns Tomaten, fordern die Massen immer lauter. Zwischen Rathaus und Kirche herrscht Stimmung wie auf dem Oktoberfest. Mit großen Objektiven gehen die Fotoreporter hinter Fenstern in Stellung. Die wagemutigsten Bilderjäger haben Unterwasserkameras mitgebracht. Teure Spezialgeräte, mit denen sie sich unter die Menge mischen. "Wasser Marsch!" heißt es gegen elf. Vor der Schlacht, so will es die Dramaturgie, werden die Kämpfer erstmal geduscht. Das dämpft den Übermut und bändigt manchen Hitzkopf, der mit Fäusten sein Revier zu markieren sucht. Andere lassen ihre Kraft am Kletterbaum, den ein schmackhafter Schinken krönt.

"Die Tomatina ist Krieg", weiß jeder in Buñol. Ein Krieg ohne Gewinner allerdings. Dafür einer, der Spaß macht. "Quetschen Sie eine Tomate zusammen und bewerfen Sie damit jeden. Das ist die Regel der Schlacht.". Das Stadtoberhaupt hat sie schon hundertmal erklärt. "Streng verboten ist, anderen die Kleider vom Leib zu reißen." Doch daran halten sich längst nicht alle. Immer wieder gehen sich rivalisierende Gruppen an die Wäsche, zerren gegenseitig so lange an den T-Shirts, bis sie reißen. Die Fetzen fliegen als Beutestücke in die Höhe, bleiben als Banner der Lust an den Stromkabeln hängen. "Queremos tomate". Wieder schreien Tausende nach den Paradiesäpfelchen. Die ersten Punkte freilich machen die Anwohner, die eimerweise Wasser auf die Krieger schütten. Hoch oben vom sicheren Balkon herab, das schürt den Kampfgeist.

Punkt zwölf startet eine Sirene die letzte Schlacht. Schritt für Schritt schiebt sich der erste von sechs Lastwagen ins Kriegsgebiet, in die Gassen rund ums Rathaus. Wie ein Panzer pflügt er durch die Menschenmassen. Auf seiner Lade ein knappes Dutzend Burschen und Mädchen, die mit überreifen Tomaten in die Menge ballern. Das Regionalfernsehen ist wie immer live dabei, die Kameraleute in Plastikplanen verpackt. "Wenn du schreist", schrieb ein Chronist des Kampfes, "hört dich niemand. Wenn du in Wut gerätst, machst du alles nur schlimmer. Wenn du sagst, dein Hemd sei ein Geschenk deiner Frau oder Freundin, wirst du erst recht bombardiert."

Schon naht der nächste Transporter, auch er bis an den Rand mit Tomaten bestückt. Tausende pappen an Wänden und Türen inzwischen, mehr noch auf dem Pflaster. Jetzt sind die Männer mit den Wasserschläuchen gefordert, müssen schauen, daß auf den Gassen nichts festtrocknet. Im Rinnstein staut sich der rötliche Saft. "Yeah", schreit die Lady aus Liverpool. Angespornt vom spanischen Freund und beseelt von ein paar Gläschen Sangria plumpst sie in die süßliche Matsche. Die Tomatina ist längst auch zu riechen.

Drohend hupen die Laster, bringen neue Tomaten. Für umgerechnet gut zwanzig Pfennig das Kilo hat sie die Stadt bei zwei landwirtschaftlichen Genossenschaften in Badajoz und Casellon bestellt. Schließlich kommt der größte Transporter. Ein Monstrum auf Rädern, noch einmal mit dreißig Tonnen Tomaten bepackt. Die letzte Munition für die Krieger, die immer dreister werden. Sogar im Ratssaal schlagen ihre Geschosse ein. Abgefeuert von einheimischen Präzisionsschützen, die genau wissen, wie man die Ratsherren hinterm offenen Fenster ärgert.

Punkt eins ist die Schlacht vorbei. Im Rathaus läßt sich Manuel den Kopf verbinden. An der Stirn hat‘s ihn erwischt – so wie ein paar andere Krieger. Nichts tragisches, Routine für die Ärzte, die hier Dienst schieben. Vor den Häusern beginnt das Großreinemachen. Mit langen Schläuchen rückt die Feuerwehr Fassaden und Türen zuleibe, werden Kirche und Rathaus gründlich gesäubert. Und wie jedes Jahr kratzen die Anwohner den Tomatenbrei vom Pflaster, schieben den Matsch in die Gullis. Bei den müden Kriegern sind Duschen gefragt, von denen die Stadt gleich dreihundert aufgestellt hat. Oasen der Frische, die Tausende auf dem Heimweg ansteuern. Eine Stunde lang haben sie die Sau rausgelassen, als Ferkel aber will sich zu Hause keiner blicken lassen.

 

Auskünfte erteilen die Spanischen Fremdenverkehrsämter unter der Sammel-Rufummer 0 61 23 / 9 91 34


 
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