© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
"Die Welt der Menschen wird der Sklaverei immer ähnlicher"
Der hundertjährige Philosoph Hans-Georg Gadamer über den vor hundert Jahren verstorbenen Friedrich Nietzsche
Baal Müller / Sasa Klickovic / Moritz Schwarz

Herr Professor Gadamer, als Sie am 11. Februar des Jahres 1900 geboren wurden, lebte Friedrich Nietzsche noch. Sie können als Zeitgenosse genau jene hundert Jahre bezeugen, die zwischen ihm und uns heute liegen. Wie lernten Sie Nietzsches Philosophie erstmals kennen?

Gadamer: Als ich sechzehn Jahre alt war, rief mich mein Vater zu sich und erlaubte mir, von nun an seine Bibliothek zu benutzen. Zwar war er Chemiker, aber er hatte das übliche bildungsbürgerliche Bücherregal, über das selbst ein Chemiker aus einer gewissen Herablassung verfügte. Tatsächlich hielt er gar nichts von Büchern. Nun stellte er mir frei, jedes beliebige Buch auszuwählen, dabei zeigte er allerdings auf zwei Bände, von denen er mir abriet. Natürlich hatte er sie selbst gar nicht gelesen. Es waren "Also sprach Zarathustra" und "Jenseits von Gut und Böse" Selbstverständlich habe ich diese zu allererst ausgewählt. Allerdings in einem hatte mein Vater doch recht, ich war natürlich noch nicht reif dafür. Und deshalb habe ich auch später, im Unterschied zu meinen Altersgenossen, die Passion für Nietzsche nicht gekannt.

Das heißt, erst auf der Universität lernten Sie ihn wirklich kennen?

Gadamer: Nun, dort lernte ich Nietzsche sehr einseitig kennen. Denn bei Nicolai Hartmann in Marburg beschränkte sich Nietzsche auf Werttheorie. Das war akademisch gezähmt. Bei den Literaten war er freilich schon in Mode. Ich machte dann weitere Erfahrungen mit Leuten, denen Nietzsche viel bedeutete. Weil davon alle so begeistert waren, habe ich dann noch einmal den "Zarathustra" gelesen. Allerdings muß ich sagen: der gehört nun, literarisch gesehen, nicht zu Nietzsches besten Werken. Wohl weil es sein philosophisches Hauptwerk war, hat er das Augenmerk nicht auf das Dichterische gelegt. Heidegger bot dann eine andere Nietzsche-Interpretation als die übliche. Und dann habe ich auch die außerordentliche Qualität einiger Gedichte Nietzsches schätzen gelernt.

Hat Heidegger Ihnen einen Impuls gegeben, Nietzsche neu zu verstehen?

Gadamer: Oh ja! Das war zu einer Zeit, als Heidegger eben auch ein Spätling war. Das war das Großartige an Heidegger, begonnen hatte er als katholischer Theologiestudent und hat sich dann über den Protestantismus bis Hölderlin hin entwickelt. Bei seinem Tode war er Nietzsche gar nicht so fern.

Für Heidegger war Nietzsche der Endpunkt der abendländischen Metaphysik...

Gadamer: ... und der Tiefpunkt, an dem das Wesen der Metaphysik zu sich selbst kommt und sich der Wille zur Macht nur noch um sich selbst dreht und nichts Neues mehr hervorbringt. Die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" ist es eben, die den Willen zur Macht sinnlos macht. Der Gegensatz zwischen beiden ist so grundsätzlich, daß Zarathustra erst Selbstmord verüben will. Dann aber hört er die Vögel. Die singen nämlich nicht aus Lust an der Macht, sondern aus Freude am Dasein. Dies zeigt, daß der damals gelehrte "Wille zur Macht"-Nietzsche ein populärer, billiger und einseitiger war. Nietzsche war durch Alfred Baeumlers Reclamheft – ein ganz schlimmes Buch – für die Nazis aufbereitet worden. Übrigens halte ich Baeumler für nicht so dumm, ein echter Nazi gewesen zu sein. Nietzsche aber ist in Wahrheit gerade ja eine Kritik des Willens. Das kann man wirklich zeigen. Heidegger hat das auch so gesehen. Denn eben der ist der Übermensch, der den Willen zur Macht überwindet.

Und die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" aushält?

Gadamer: Genau, der trotzdem "Ja" zum Leben sagt. Man muß sich das Leiden dieses Menschen Nietzsche vergegenwärtigen. Das war ein furchtbares Leben. Eine frühe geniale Jugend, dann, als Professor in Basel, taucht er in diese akademische Welt ein, die ja nicht unbedingt die tiefsten menschlichen Bedürfnisse befriedigt. Zwar hatte er dort gute Freunde, wie Jakob Burckhardt und Franz Overbeck, aber auch das hob sein Leiden nicht auf.

"Niemand kann ohne Hoffnung leben"

Nietzsches Bejahung des Leidens ist also biographisch begründet. Hat es aber auch nicht vor allem eine metaphysische Dimension?

Gadamer: Der vierte Teil des" Zarathustra" sollte ursprünglich das Ende bringen, nämlich den Selbstmord Zarathustras. Doch das hat sich beim späten Nietzsche gewandelt. Statt dessen hat er die Idee der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" gelehrt. Für uns ist das der wahre Nietzsche. Das ist so ähnlich, wie ich von Pessimisten denke. Sie belügen sich notwendigerweise ein wenig selbst. Denn niemand kann ohne Hoffnung leben, sonst ist nur noch Selbstmord möglich. Die Psychoanalyse und Freud haben dagegen nur "Wissen ist Macht" gelehrt. Für sie war Nietzsche nur dafür ein Zeugnis. Den vierten Teil muß man aber eben erst lesen lernen.

Sehen Sie auch im Tode eine nietzscheanische Lebensbejahung?

Gadamer: Ja, das ist in der Tat die Idee. Das ist die eigentliche Bedeutung der "Wiederkehr des Gleichen": ob das gut oder schlecht war, es war doch herrlich.

Hat aber diese Emphase des Bejahens nicht etwas künstliches, um vom eigenen Scheitern abzulenken?

Gadamer: Oh nein, das ist vielleicht doch eine sehr tiefe Wahrheit, daß es auch im Tode eine beständige Gegenwart der Lebendigkeit gibt. Nietzsche war ein in seiner Liebe Gescheiterter. Es geschah nur einmal in seinem Leben, daß er von einer ihm gewachsenen, erotisch anziehenden Frau in seinen Lehren verstanden wurde. Das war ein großes Erlebnis, und es war sehr hart, daß er da eine Abfuhr bekommen hat. So ist er immer der unglücklich Liebende gewesen. Wahrscheinlich hatte er außer für diese Russin Lou Andreas-Salomé nie eine wirkliche Passion gehabt. Man kann aber durchaus kritisch sein und sich fragen: Kann man das eigentlich, was Nietzsche da macht, das Dasein als solches annehmen?

"Das Leben denkt immer über sich hinaus"

Rechtfertigt sich aus Nietzsches Denken der Heroismus als Todesüberwindung?

Gadamer: Das ist schwer, da wir doch wohl alle von dem Todeskampf wissen. Dies als Überwindung des Todes zu verstehen, kann sich nur jemand erlauben, der meint, sein Tod ist noch fern. Diese Idee gibt es doch genauso etwa im Konfuzianismus oder in anderen Weltreligionen. Das Leben denkt eben immer über sich hinaus, denn man kann sich sein eigenes Ende nicht vorstellen. Der Tod ist eben tief beeindruckend.

Aber sehen Sie dieses "Todesbewußtsein" in unserer modernen Welt nicht mehr und mehr dahinschwinden?

Gadamer: Ich glaube, daß dem immer wieder die Erfahrung mit dem Tod widerspricht. Wenn man etwa einen Menschen verloren hat oder einen Todeskampf miterlebt. Dann ist es nicht mehr so einfach, ihn auszublenden. Auch heute bedeuten uns darum Dinge wie Denkmalpflege und Totengedenken noch etwas: soweit ist es noch nicht gekommen, daß die Toten nicht mehr beerdigt werden.

Auch wenn der Tod als Faktum erhalten bleibt, leugnet die Technik nicht zunehmend seine transzendente Qualität? Damit gerät doch das, was Nietzsche als Tod erkannt hat, zunehmend aus unserem Bewußtsein.

Gadamer: Ich gebe natürlich zu, daß diese technische Gesellschaft, die sich da anbahnt, sehr viel Ähnlichkeit mit einer Ameisen-Welt hat. Ich behaupte schon seit langem, daß die Technik die neue Sklaverei geworden ist, unabschüttelbar wie ehedem. Ebenso die ganze Form des heutigen Informationswahns: Wie wundervoll das doch ist, daß wir jetzt jederzeit alles gleichzeitig hören können. Aber die Vorstellung, daß man in Zukunft seine Kinder vielleicht einmal im Kaufhaus kauft, ist nicht gerade "belebend". Übrigens trete ich deshalb heute auch sehr für den Schutz der Mütter ein. Daß wir in den Frauen eine Begabungsquelle haben, die wir bisher unterschätzt haben, würde ich niemals leugnen. Aber wichtiger ist doch die Fähigkeit, "Ja" zu sagen, auch zu dem, was einem nicht gefällt. Und das lernt man bei der Mutter. Wer vor allem vermittelt denn etwa die Erziehung, die Sprache? Ja, man kann geradezu sagen, es ist doch die Mutter, die die Welt baut; in der Sprache.

Sie selbst haben Ihre Mutter schon früh verloren.

Gadamer: Ich war kaum vier Jahre alt, und meine Mutter hatte Diabetes, die damals noch unheilbar war. Drei Jahre nach ihrem Tod, fand man das Insulin. So habe ich vieles, was die Mutter lehrt, von der mütterlichen Seite nicht erfahren.

Ist Nietzsche ein Optimist, oder hat das Lebensbejahende bei ihm einen anderen Charakter?

Gadamer: Oh nein, Nietzsche ist letztlich Optimist. Die Vögel haben recht. Wir sollten alle zufrieden sein.

Ist er nicht eher Realist, der die Welt, in die er gestellt ist, akzeptiert und mit dem Vogelwunder nur ausdrückt, was er sieht?

Gadamer: Gewiß hat das auch realistische Elemente. Aber der Optimismus drückt sich in der großen moralischen Leistung Nietzsches aus, bis hin zu den letzten Gedichten von Sils Maria, bis zum Ende, bis zum Zusammenbruch. Das Leben, sein Leben war sehr schwer.

Changiert Nietzsche zwischen dem Überwinder des Lebens und dem vom Leben Überwundenen?

Gadamer: Betrachten Sie doch diese sehr eigentümliche, geplagte seelische Leidenszeit. Er ist immer bis zum äußersten des Unwahrscheinlichen gegangen, und das gerade war das Wahre. Bei ihm ist alles voller Widersprüche. Mal schlüpfte er in die Maske des Freigeistes, mal des Reaktionärs. Akademisch ist er einfach nicht zu verarbeiten. Ich glaube, daß sich eine Figur wie Nietzsche keinesfalls wiederholen läßt. Das ist wirklich eine einmalige Figur gewesen. Vielleicht so wie Paulus.

Erinnert dieses Ringen, das menschliche Leben zu meistern, nicht an Goethe?

Gadamer: Ich würde sagen: eine Seite von Goethe ist in Nietzsche durchaus zu finden.

War das 19. Jahrhundert mit Nietzsche überfordert?

Gadamer: Ja, denken Sie doch nur an Freud, das war doch dasselbe. Die Wahrheit steckt im Unbewußten. Freud war ganz überzeugt davon. Er hat natürlich genauso seine Fragen gegenüber dem Tod gehabt. Das ist alles nicht einfach, und es wird von Nietzsche auch nicht behauptet, daß es leicht ist. Er erlebt seine Epoche. Denken Sie an den Schluß des "Zarathustra": Es war ein wunderbarer Abend in den Hochalpen, mit der Sonne. Das wird geschildert, und er wartet sozusagen auf nichts und er freut sich: Er ist da. Und dann die Begegnung: "Aus eins wird zwei, Zarathustra ging an mir vorbei." Oh, es sind die kleinen Gedichte, die wirklich davon zeugen, daß er ein ganz großes Talent war.

Erkennt Nietzsche also einerseits die Existenz Gottes, andererseits dessen Unerreichbarkeit?

Gadamer: Das erinnert mich an Freunde von mir, Juden, die Christen geworden waren und die immer mit großer Befriedigung reagierten, wenn sie einem guten katholischen Denker begegneten, der wirklich glaubte. Es ist wohl daran kein Zweifel, daß Nietzsche immer mit der Möglichkeit Gottes rechnete. Wie übrigens auch Heidegger, der ebenfalls sein Leben lang ein Gottsucher geblieben ist. Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß Nietzsche mit dem "Willen zur Macht" nicht das letzte Wort gesprochen hat. Jesus ist ihm das "Ja" im Tod. Im Glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen liegt eben der Mut begründet, auch noch den Tod zu lieben. Ich persönlich bin zwar gegenüber der Religion nur voller Respekt, aber ich denke, Glaube ist die allerwichtigste Gnade, die es gibt. Das Geheimnis des Lebens, aber auch die Dankbarkeit. Das scheint mir doch in der Religion, egal in welcher Weltreligion, eine grundlegende Rolle zu spielen. Allerdings, etwas in der christlichen Dogmatik empfinde ich als unendlich stark, nämlich, daß Jesus geglaubt hat, zum Heile der Menschheit, als Statthalter, an ihrer Stelle zu sterben. Insofern kommen mir all die anderen Weltreligionen nicht ganz so überzeugend vor.

"Ich bin nicht sicher, daß es das Jahr 3000 geben wird"

Das ist eben das "Ja" zum Leben, das Opfer.

Gadamer: So ist es. Vielleicht hängt damit auch zusammen, daß Europa diese Führungposition in der Weltkultur eingenommen hat. Ich bin nicht sicher, daß es das Jahr 3000 geben wird. Der Islam ist die nächste Gefahr, doch die wirkliche Bedrohung sehe ich von China ausgehen. In diesen Religionen schätzt man das Leben nicht so hoch wie bei uns. Ich sehe zum Beispiel die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zwischen China und Amerika. Wir glauben die atomare Gefahr überwunden zu haben, weil der Kalte Krieg beendet wurde. Doch das ist so kurzfristig, davon kann gar keine Rede sein. Es muß gelingen, daß der Mensch angesichts seiner Zerstörerwaffen einen Weg findet. Sei es nun durch einen Gott oder nicht. Ich war sehr mit Heisenberg befreundet und weiß, daß außer Heisenberg kaum einer der großen Chemiker und Physiker sich diesbezüglich so viele Gedanken gemacht hat. Übrigens, deshalb haben auch alle seine Schüler bei mir Examen machen müssen. Ich habe auch die Menschen gekannt, die die Grundlagen der Atombombe entwickelt haben. Seltsam, das waren so liebenswürdige und so menschliche Wesen. Angesichts der Weltzerstörungswaffen wird ein völlig neues Verhältnis zur Religion notwendig werden. Wahrscheinlich wird es immer eine Wirkung Nietzsches geben müssen, je mehr ein primitiver Atheismus sich breit macht. Das ist das Unheimliche – deshalb kann ich mich nie als einen unreligiösen Menschen denken. Ich weiß irgendwie, die Transzendenz gehört zum Denken.

Sie sehen also ausgerechnet in der Kirche einen "Bewahrer" von Nietzsches Weisheit?

Gadamer: Ich lernte vor sehr vielen Jahren einen katholischen Priester namens Karol Woytila persönlich kennen. Natürlich ahnte ich nicht, daß er einmal Papst werden würde. Ich habe großen Respekt vor ihm. Wenn jemand gegen ein solches Machtgebilde wie die katholische Kirche durchsetzt, Palästina zu besuchen, bedeutet das schon etwas. Er hat diese Weisheit, von der ich hier spreche. Und er weiß auch, eigentlich tun wir nur das allererste, wenn wir erreichen, daß die Christen sich nicht mehr gegenseitig umbringen.

Man hat versucht, Nietzsche auch als Interpretationstheoretiker in Anspruch zu nehmen. Dann könnte der "Wille zur Macht" als Versuch eines jeden, seine Perspektive durchzusetzen, gedeutet werden. Hat also die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" nicht auch eine Komponente, die für die Hermeneutik relevant ist?

Gadamer: Nein, ich denke, daß man sich mit dieser Deutung verirrt hat. Ich würde doch sagen, das Bejahen ist das Entscheidende – und daß der andere recht haben kann.

Wie sehen Sie Peter Sloterdijks Interpretation Nietzsches? Kann man annehmen, daß er den Übermenschen- und Menschenzuchtaspekt ein wenig falsch versteht?

Gadamer: Ich muß zu Sloterdijk sagen: Ja, da ist schon was dran. Aber, so-viel Zucht kann es denn doch nicht geben.

Nietzsches kritisiert unseren Umgang mit der Geschichte: alles bleibe beliebig. Dagegen setzte er eine Art von Geschichtsbetrachtung, die vom Leben ausgeht und sich einerseits aussuchen kann, was sie will, andererseits aber auch vergessen kann, was sie will.

Gadamer: Oh ja, das Vergessen spielt eine sehr wichtige Rolle, ein Geist ohne Vergessen ist überhaupt nicht zu denken. Natürlich ist es für einen Deutschen eine Pflicht, zu fragen, wie hat das Unheil vor fünfzig Jahren geschehen können? Denn daß wir schlechtere Menschen sind, das kann mir keiner einreden. Was für einen Fehler haben wir nur gemacht? Was für einen Fehler? Es sind da unheimliche Kräfte in jedem Volke.

War das die Moderne?

Gadamer: Was ist die Moderne? Die Erfindung der Zerstörungswaffen. Seitdem sind unsere Aufgaben ganz andere.

Dann ist der große Relativierer und Erschütterer nicht Nietzsche, sondern die Atombombe?

Gadamer: Nicht nur, in allen Welten der Vernichter.

"Nietzsche ist ein Teil unseres Geistes"

Was halten Sie von dem Topos, der Mensch, der einst Sklave der Natur war, sei heute Sklave der Technik?

Gadamer: Zweifelsohne. Allerdings stehen dahinter immer Menschen. Letzlich sind diese Sklavenverhältnisse immer von Menschen gemachte Verhältnisse.

Die Idee der Apokalypse gehört zum Denken des Menschen. Ist die Moderne vielleicht ein schleichender Tod, für den Menschen unsichtbar?

Gadamer: Ja, das würde ich schon sagen.

Entwickelt sich unsere Gesellschaft weg von Nietzsche, oder bestätigt sie ihn mit ihrer immer weiter fortschreitenden Entwertung des Menschen und den immer blasphemischeren Versuchen, ihn neu zu setzen?

Gadamer: Ich glaube, wir kommen von ihm nicht los, denn man kann Nietzsche immer wieder neu verstehen. Denkbar wäre allerdings, daß ihn ein neuer, noch unmittelbarerer Denker ablöst. Man weiß nie, was die Zukunft bringt.

Ist Nietzsche mit seiner Durchdringung der Dinge der Andere, der Antipode, unserer modernen Epoche oder aber antizipierte er jene Wahrheit, die sich uns heute hundert Jahre später darbietet?

Gadamer: Vielleicht ist es so. Ich glaube aber, für eine Antwort müßten wir die Grenzen des Menschseins weiter erkunden und die Wahrheit, von der Sie sprechen, ergründen. Wenn wir in dieser Hinsicht die großen Weltreligionen dazu brächten, sich in der Frage, was wir alle glauben, zu einigen, dann wäre schon viel gewonnen.

Ist Nietzsches Denken nun die totale Kapitulation oder der endgültige Triumph?

Gadamer: Die Welt der Menschen wird der Sklaverei immer ähnlicher. Aber das Wissen darum wird immer wieder eine Art Elite entstehen lassen. Ich glaube, daß wir mit der denkenden Gesellschaft noch ganz am Anfang stehen. Die große Mehrzahl wird überhaupt nicht mehr denken. Die befolgen einfach Regeln.

Ist Nietzsche dann der erste freie, oder der letzte freie Mensch? Der Begründer eines Ordens von wenigen Wissenden, oder der letzte Römer in einem Barbarensturm?

Gadamer: Nein, ich glaube nicht, daß man so denken kann.

Geht mit Nietzsche die abendländische Philosophie im Grunde zur Neige?

Gadamer: Die Amerikaner setzen ja eher auf die analytische Philosophie. Ich glaube aber nicht, daß sich die analytische Philosophie halten kann. Das ist ja so sterbenslangweilig. Ich kam nach Amerika und war völlig überrascht, weil mein Vortrag und ich aufgenommen wurden wie Sieger. Dann verstand ich: Weil ihre analytische Philosophie so langweilig ist. Zur Analyse muß sich eben auch die Phantasie gesellen. Beides muß man pflegen. Wofür soll man denn logisch sein? Das ist letztlich entscheidend! Aristoteles etwa war sicher ein großer logischer Kopf, aber eben nicht nur das.

Wenn die europäische Philosophie zurückkehrt, dann kommt also auch Nietzsche zurück?

Gadamer: Sicher. Wollen wir mal so sagen, die nietzscheanische Botschaft ist so mächtig, daß wir ihn gar nicht mehr vergessen können. Wir brauchen ihn deshalb nicht zu lesen. Das ist die Frage, ob wir das tun werden. Aber irgend etwas hat er einmal bedeutet. Er ist nun Teil unseres Geistes. Immer wieder neue Fragen zu haben, das werden wir bei Nietzsche immer aufs Neue lernen.

 

Hans-Georg Gadamer, am 11. Februar 1900 in Marburg geboren, studierte Philosophie und Klassische Philologie, promovierte 1922 bei Natorp und habilitierte 1929 bei Martin Heidegger. Gadamer lehrte in Marburg, Leipzig, Frankfurt/Main und bis zu seiner Emeritierung 1968 als Nachfolger Karl Jaspers in Heidelberg. 1960 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“, eine Gesamtausgabe erschien 1985 in zehn Bänden. Gadamer ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und Ehrendoktoren.


 
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