Bundesweit (und auch in einigen Akten des Verfassungsschutzes) bekannt geworden ist der 1997 verstorbene Singer/Songwriter Rio Reiser bereits in den siebziger Jahren mit seiner legendären Anarchoband Ton Steine Scherben, die mit ihren agitativen Hymnen wie "Macht kaputt, was Euch kaputt macht", dem legendären "Rauchhaus-Song", Wortspielereien à la "La Response" und Liebesliedern der Sorte "Laß uns ein Wunder sein", linke Straßenkämpfe, Hausbesetzungen und Anti-AKW-Demos untermalte. Nachdem sich Ton Steine Scherben 1984 auflösten, begann Frontmann Rio Reiser zwei Jahre später eine recht erfolgreiche Solokarriere, in der er zwar kaum noch politische Propaganda, aber dafür um so mehr witzige Popsongs mit satirischen Texten und vor allem eine große Anzahl traumhafter Balladen hervorbrachte. Letztere sind nun unter dem Titel "Junimond – Die Balladen" bei Columbia/Sony veröffentlicht worden.

Der aktuelle Grund dieses erneuten "Greatest Hits"-Samplers von Rio Reiser ist die Vergewaltigung seines 86er-Klassikers "Junimond" durch die Boyband Echt, die – offenbar unter dem Motto: Tote können sich nicht wehren! – diese zerbrechliche Mittsommerode für den Soundtrack des Kinofilms "Crazy" neu aufgenommen hatten. Um den Nachgewachsenen, die die weichlich-süßliche Coverversion von "Junimond" bis in die Top 10 gekauft haben, zu zeigen, daß es bereits weit vor Echt ein deutsches (und vor allem wesentlich intelligenteres) Rockleben gab, hat man sich nun entschieden, die 15 besten Balladen aus Reisers Solokarriere komprimiert zusammenzustellen und als CD zu veröffentlichen.

Aus diesen meist getragenen, oft düster-orchestralen, ab und zu auch verspielten, aber durchgehend höchst romantischen Kleinoden kann man gut ersehen, daß Rio Reisers kurzes, aber heftiges Leben aus wesentlich mehr bestand als aus Politik und Agitation. Obgleich er bis heute als Ikone vieler linker Gruppen bis hin ins terroristische Spektrum gilt, konnte Reiser zwischendurch immer wieder völlig abschalten, um die eine oder andere Ballade, ohne jeglichen ideologischen Anspruch, zu Papier zu bringen. "Zauberland ist abgebrannt" ist etwa so eine, oder auch "Wohin geh’n wir". "Zu Hause" orientiert sich textlich an Tom Waits’ "In the Neighbourhood", beschreibt aber die "Nachbarschaft" ausschließlich romantisch, etwas verregnet, durchaus dörflich – aber wunderschön. "Für immer und Dich" war 1986 ein kleiner Singlehit und wird als eines der eindringlichsten Liebeslieder der achtziger Jahre bezeichnet. Einen "himmelblauen Spätherbstmorgen in der Stadt" beschreibt Reiser in "Herbst" – kaum einem anderen deutschen Sänger/Liederschreiber ist es jemals gelungen, so zerbrechliche, einfache und dennoch aussagekräftige Worte für deprimierte Gefühle an einem stürmischen Novembertag zu finden: "Ich sitze hier am Ofen / schaue in das Buch / versuch‘ die Worte zu entziffern / doch es bleibt bei dem Versuch". Solche und andere Gefühlsaussagen findet man zuhauf auf "Junimond – Die Balladen". Eher frech und fordernd ertönt hingegen der nächtliche Großstadtblues "Nimmst Du mich mit?" Zwar konnte Rio Reiser niemals richtig singen, aber das konnte er genausowenig "richtig" wie Mick Jagger, Tom Waits oder Louis Armstrong. Wären die hier versammelten Kabinettstückchen mit "wirklicher" Stimme vorgetragen, würden sie nahezu ihren gesamten Charme, ihre Aussage, ihre brennende Eindringlichkeit einbüßen – wie man ja derzeit bei Echts Fassung von "Junimond" überdeutlich hören kann.

Und damit die Teenies nicht nur Rios Liebeslieder und Balladen kennenlernen, sind auch die beiden größten Rockerfolge seiner Solokarriere als "Bonus-Tracks" auf dieser Compilation veröffentlicht: "König von Deutschland" – bis heute ein Partyklassiker – und "Alles Lüge".