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Die unerwünschte Opposition Neue Gegner der Etablierten werden sich nicht der alten Parolen und der alten Taktik
bedienen
Karlheinz Weißmann
Vor einiger Zeit kam Günter Grass zu der Feststellung, daß es in Deutschland
keine Opposition mehr gebe. Was er damit meinte, hatte nichts mit Zweifeln an der
Funktionstüchtigkeit des Bundestags und der Existenz einer aus PDS, FDP, CDU und CSU
bestehenden Minderheit im Parlament zu tun, die der Regierung widerstrebt. Was Grass
meinte, war, daß das Land von einem großen Konsens bestimmt werde, daß die satte
Zufriedenheit alle Konfliktfähigkeit lähme.
Man spürte förmlich den Unmut des Engagierten, der erst auflebt, wenn sich
seine Empörungsbereitschaft Luft machen kann, jenes Verhaftetsein an die Atmosphäre der
ausgehenden sechziger und dann der siebziger Jahre, als Grass seine Hochzeit hatte und
entscheidende Anregungen nicht nur für sein politisches Denken, sondern auch für seine
Frisur und die Wahl seiner Kleidung erhielt. Wenn Grass die Notwendigkeit einer Opposition
beschwört, dann meint er eine Opposition der Progressiven, idealerweise die
Wiederbelebung jenes Konzerts kritischer Geister, das einmal für Willy Brandt und die
Studenten, für die Entspannung zwischen den Blöcken und den frühen Marx, für die
Anerkennung der Einmaligkeit deutscher Schuld und ein Ende des
Wiedervereinigungsgeredes eintrat. Leute in Tweedsackos mit Ärmelflicken und
Cordhosen, dazwischen ein bißchen Existentialistenschwarz oder die leicht unförmig
werdenden, selbstgestrickten musterreichen Wollpullover, Pfeifenraucher und Rotweinkenner,
Jazzhörer, Abonnenten der Zeit, des Spiegels, der Frankfurter Rundschau, später (nicht
von Anfang an!) allesamt Verehrer von Jürgen Habermas und bevorzugte Teilnehmer an den
Tagungen Evangelischer Akademien.
Natürlich kommt das alles nie zurück, aber mit seiner Nostalgie ist Grass keineswegs
allein. In einem unlängst erschienenen Buch von Bettina Gaus, langjährige Bonner
Korrespondentin der Berliner tageszeitung, geht es auch um den Mangel an Opposition. Der
Band trägt den Titel Die scheinheilige Republik und beklagt das Ende
der demokratischen Streitkultur (DVA, Stuttgart/München 2000; JF 26/00). Es handelt
sich um ein erstaunlich schlechtes Buch, das nicht einmal den beschränkten Anforderungen
genügt, die man an aktuelle Produktionen stellen muß, die eine Konjunktur nutzen
möchten; in diesem Fall die Konjunktur, die sich aus dem Unmut über den
CDU-Finanzskandal ergibt.
Ohne Entscheidendes zu übergehen, wird man sagen können, daß Frau Gaus die
Anpassungsbereitschaft ihrer peer group beklagt. Sie kann sich nur schwer damit abfinden,
daß einerseits die Bundesregierung als Repräsentantin der Achtundsechzigergeneration
gilt, andererseits Gerhard Schröder und Joschka Fischer schon habituell mit der APO immer
weniger zu tun haben, mehr noch, daß die Führer von damals samt und sonders in der
Versenkung verschwunden sind, während die Opportunisten (Gaus über
Schröder) oder die Epigonen (Gaus über Fischer) das Feld beherrschen.
Was verstört, ist auch hier der Verlust des Vertrauten, für Bettina Gaus die
Allgegenwart der Freizeitkleidung mit Schweißhemd, Jeans und Turnschuhen, die lila
Latzhosen und die Batik-Tücher, die Frauen mit den Ohrgehängen nur auf einer Seite, die
pflichtmäßige Lektüre der taz und des Kursbuchs, die
Betroffenheit, die unerbittliche Verteidigung des alternativen
Lebens im Kleinen beim Verlangen nach Biokost und im Großen bei der Sehnsucht nach
Ökotopia und vielleicht auch ein bißchen die Sehnsucht nach den
Wochenendschlachten um Brokdorf oder die Startbahn West. Grass und Gaus gehören zwei
verschiedenen Generationen an, aber was sie trennt, wiegt leicht, es verbindet sie
nämlich eine spezifische politische Blindheit.
Man kann das vor allem in dem Buch von Frau Gaus merken, aber auch bei Grass ist die
Fehlwahrnehmung deutlich zu spüren: Es mangelt beiden die Phantasie, eine andere als die
Opposition von links vorzustellen. Sie wurden sozialisiert in einer Ära, die wesentlich
bestimmt war von der politischen Abschottung Westdeutschlands durch den Mauerbau und die
Protektion des großen Allierten.
Sie lebten in einer Welt ohne Ernstfall, die deshalb alle möglichen Petitessen als
Ernstfälle imaginieren konnte: von der Zulassung der Pille und der
Frauenquote über die Kontaktsperre und die Berufsverbote, über
den Boykott von Früchten aus Südafrika, Friedenserziehung und Neonazismus. Anlaß zu
politischer Erregung war preiswert zu haben, echte Herausforderungen oder Gefährdungen
gab es in den vergangenen vierzig Jahren nicht. Das war die Voraussetzung für den
Siegeszug einer Weltanschauung, die sich ihrer moralischen Überlegenheit sicher sein
wollte und noch sicherer, was die Feststellung des politisch Guten und des politisch
Bösen betraf.
Wie jeder Siegeszug, so hat auch dieser irgendwann ein Ende. Die Lage ändert sich, und es
wird ein Gegner auftreten, der sich nicht der alten Parolen und nicht der alten Taktik
bedient. Grass und Gaus spüren das, aber die neue Gefahr bleibt undeutlich, deshalb das
Gerede von der fehlenden Opposition. Dabei haben selbst die Führer der
demokratischen Sozialisten mittlerweile Zweifel an ihrem Endziel und lassen
die Basis alleine, und das Häuflein SPD-Abgeordnete, das unlängst meinte, an das linke
Gewissen der Partei appellieren zu müssen, steht ebenso verlassen da.
Wer noch erwartet, daß sich die alten Muster wiederholen, wird eine Enttäuschung
erleben. Die Opposition, wenn es sie denn geben sollte, wird eine andere als
die vertraute Gestalt haben. Auffällig ist schon, daß zwei Phänomene von Grass wie von
Gaus bei ihrer Klage völlig ausgespart wurden, obwohl deren oppositioneller Gehalt
unbestreitbar ist: der Populismus und die Kritik der political
correctness. Beides kommt in der Sehnsucht nach Streitkultur nicht vor.
An der Existenz von Massenbewegungen, die sich gegen unkontrollierte Zuwanderung,
Steuerdruck, Bürokratisierung und Verfall der inneren Sicherheit wenden, und der
Auflehnung einzelner gegen jene schleichende Zensur, die zuerst Diskussions- und dann
Meinungsverbote erzwingt, kann diese Ignoranz aber nichts ändern.
Es handelt sich wie bei jeder echten Opposition um eine unerwünschte Opposition. Ihre
Wortführer sind nicht so handzahm, wie man und wie es auch Günter Grass und Bettina Gaus
im Grund gerne hätten. Sie verweigern sich nicht nur rituell, sondern tatsächlich dem
consensus omnium. Wenn man ihre Vertreter einfach aus der Debatte ausschließt, dann wird
das auf die Dauer so wenig nützen wie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, als
der christlich-humanistisch-antikommunistisch-bürgerliche Konsens mit grauen Anzügen und
damenhaften Kleidern, geputzten Schuhen und den Pappritzschen Anstandsregeln, der
Klassikerlektüre und den Kriegserinnerungen herrschte und die zornigen jungen Männer
fernzuhalten suchte.
Eine neue Lage bringt immer neue Formen der Opposition mit sich, die nächsten werden
wahrscheinlich nicht nach dem Geschmack der Grass und Gaus sein. Man sollte sich eben
überlegen, ob man wirklich bekommen will, was man sich wünscht.
Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und
unterrichtet als Studienrat an einem Gymnasium.
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