© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Nicht nur verlorene Paradiese
Über die lückenhafte Rekonstruktion von "Heimat" in der Erinnerungsliteratur der Vertriebenen
Doris Neujahr

Jeder halbwegs bewußte Mensch hat das Bedürfnis, sich der historischen, geistigen und kulturellen Zusammenhänge, in denen er existiert, und der geschichtlichen Zeugnisse, die ihn umgeben, zu vergewissern. Darum war es nur eine Frage der Zeit, daß die Polen, die heute die alten deutschen Ostgebiete bewohnen, sich deren Kultur und Geschichte anzueignen beginnen und dafür ideologischen und nationalromantischen Ballast abwerfen.

Der zweisprachige Bildband "Byl sobie Szczecin – Es war einmal Stettin" von Maciej Czekala ist ein Beispiel dafür, zumindest auf den ersten Blick. Czekala ist ein polnischer Stettiner, der seit seiner Kindheit in dieser Stadt lebt. Sein Buch ist dort 1999 erschienen und für 43 Zloty erhältlich. Im Vorwort beschreibt er, was für ein Abenteuer es Ende der sechziger Jahre bedeutete, das Buch "Stettin in 144 Bildern" aus dem Rautenberg-Verlag durch die Zollkontrollen der DDR und "Volkspolens" zu bringen, und wie erregend es war, Stettin anhand unbekannter historischer Fotos neu kennenzulernen.

Die Fotografien seines Bildbandes sind aus den einschlägigen deutschen Heimatbüchern bekannt. Der Tonfall des Begleittextes, in dem vom Lebensstil, von der Kultiviertheit, der baulichen Vielfalt des deutschen Stettin, geschwärmt wird, ebenfalls. Und eben diese Vertrautheit ist es, die auf den aufgeklärten Leser schnell befremdend wirkt.

Es stellt sich heraus, das der Autor bis in die sprachlichen Wendungen hinein vom Bildband "Stettin – so wie es war" von Hans Bernhard Reichow und Otto Kunkel inspiriert wurde (Droste Verlag, Düsseldorf 1975). Reichow war zwischen 1936 und 1945 Stadtbaudirektor Stettins, Kunkel Kunsthistoriker. Beide erhielten nach dem Krieg Professuren und von der Pommerschen Landsmannschaft den Kulturpreis. Sie waren also nicht einfach ehrenamtliche Hobbyhistoriker, sondern sie verfügten über alle Voraussetzungen, um über das deutsche Stettin, insbesondere über seine letzten Jahre, kompetent Zeugnis abzulegen. Im übrigen hatten sie auch den Ehrgeiz, ein repräsentatives Werk vorzulegen. Allerdings stellt der Leser schnell fest, daß es ihnen weniger um Informationen und Aufklärung ging, sondern sie das Wunschbild einer familiären Idylle bestätigen wollten. Der elegische Singsang, in den sie verfallen, beschwört den deutschen Osten als ein verlorenes Paradies.

Genau hier liegt das Elend eines großen, vielleicht des größten Teils der Vertriebenenliteratur, das den Vertriebenenbereich mehr und nachhaltiger in Verruf gebracht hat als jede noch so pointierte Pfingstrede eines Verbandsfunktionärs. Dieses Paradies ist natürlich eine Projektion, für die wichtige Teile der Vergangenheit ausblendet wurden. Die Publikationen dieser Art unterliegen einer Faustregel: Je weiter sie im 20. Jahrhundert voranschreiten, je mehr Informationen ihren Autoren aus eigener Anschauung zur Verfügung stehen, um so weniger erfährt der Leser über politische Entwicklungen und personelle Strukturen. Nichts Erhellendes, Greifbares, Konkretes wird mitgeteilt über politische Kämpfe und soziale Konflikte, über Wehrverbände und Gewerkschaften, über Sozialdaten und Wahlergebnisse, über die Einstellung der Bewohner zu Kaiserreich, Republik und Diktatur, über die Presse, die Parteien, über den Geist in Verwaltung und Justiz, über Strömungen in den Kirchen, über die NS-Bewegung und ihre führenden Köpfe – über Fragen also, die mittelbar und unmittelbar mit politischen Entwicklungen, NS-Machtergreifung, Zweitem Weltkrieg und letztlich auch mit der Vertreibung im Zusammenhang stehen. Nichts darf das Wunschbild der "schönen alten Heimat" trüben.

Das hat Gründe: Diese Bücher sind im Schoße der Heimatkreise entstanden, sie sollten für die Erlebnisgeneration Erbauung und Seelentrost sein, und sie hatten die Interessen von Verbänden und Einzelpersonen zu berücksichtigen. Die Autoren, die Funktionäre, die alten Kommunal- und neuen Verbandseliten kannten sich aus früheren Zeiten, man wußte Bescheid, wer ehedem in welche Strukturen verstrickt war, und wollte sich nicht zu nahe treten. Diese Rücksichtnahmen haben sich teilweise bis heute vererbt. Das Kapitel "Drittes Reich" wurde völlig verdrängt. Bei Reichow/ Kunkel heißt es lapidar: "Tun wir ’trotz allem‘ noch einen Blick ins letzte Jahrzehnt unserer Stadt Stettin (was ungut und verhängnisvoll war, wollen wir alle uns selber sagen)!" Die NS-Zeit wird in launigen Anekdoten aufgelöst und scheint in Stettin vor allem aus Stadtverschönerungen, Museums-Ausstellungen und dem Bau der Autobahn bestanden zu haben. Diese Amnesie prägt bis heute die Außenwahrnehmung der Vertriebenenverbände und -institutionen.

Das "wilde" KZ, das 1933/34 auf der Stettiner "Vulcan"-Werft unterhalten wurde, handeln Reichow und Kunkel beiläufig ab: "Daß sich auf dem Gelände des Betriebes ein Konzentrationslager befand, wußte oder ahnte niemand von den ’einfachen Bürgern‘, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, als sich Klatsch verbreitete, daß ’Hermann‘ (Göring) unerwartet ankam, um sich bezüglich des Tatbestandes zu überzeugen. Er wurde sehr wütend, schloß das Lager und erschoß den Kommandanten." Maciej Czekala hat diese Darstellung zitatweise übernommen und hinzugefügt: "Der Verfasser (d.h. Reichow/ Kunkel, D.N.) kommentiert die Echtheit dieser Vorgänge nicht."

Die Wahrheit ist: Die Greuel im KZ Stettin-Bredow hatten sich nicht nur in der Stadt, sondern sogar bis ins Ausland herumgesprochen. Deshalb griff Göring ein. Das ist seit dem Doppelband "Pommern 1933/34 im Spiegel von Gestapo-Lageberichten und Sachakten", 1974 von Robert Thevoz, Hans Branig u.a. herausgegeben, notorisch. Gegen den Stettiner Gestapo-Chef Fritz-Karl Engel fand wegen der Bredow-Vorgänge 1951 ein Prozeß in Flensburg statt, der ebenfalls unerwähnt bleibt. Der pommersche Gauleiter Wilhelm Karpenstein, der Ende 1933 das KZ Bredow inspiziert hatte und über die Brutalitäten im Bilde war – selbst Göring hielt ihn für untragbar –, wird bei Reichow/ Kunkel (und Czekala) lediglich im Zusammenhang mit einer Schiffstaufe genannt.

In neueren Büchern wie "Stettin. Daten und Bilder zur Stadtgeschichte" von Ernst Völker und "Chronik der Stadt Stettin", herausgegeben von Ilse Gudden-Lüddeke, sieht es sogar noch trüber aus. Bei Völker heißt es: "Die Zeit nach 1933 zeigt den Wettbewerb aller durch die neuen Machthaber, die Nationalsozialisten, entfesselten Kräfte im Aufbau des wirtschaftlichen und geistigen Lebens."

Er wollte wohl sagen, daß es Hitler gelang, in dem von Krisen geschüttelten Reich und in Pommern eine Aufbruchstimmung zu erzeugen – was jedes seriöse Geschichtswerk bestätigt. Im Sommer 1935 aber veröffentlichte das Gauorgan Pommersche Zeitung eine fingerdicke Beilage ausschließlich mit antisemitischer Hetze, die bei den Zeitgenossen kaum unbemerkt geblieben ist. In Pommern nahmen die deutschen Judendeportationen ihren Anfang, als im Februar 1940 über 1.000 Juden aus Stettin und anderen pommerschen Orten, deren Wohnungen "aus kriegswirtschaftlichen Gründen" benötigt wurden, wie es hieß, nach Osten in den Distrikt Lublin abtransportiert wurden. Kaum einer überlebte. Über diese "entfesselten Kräfte" schweigen die Heimatbücher. Als seriöse Informationsquellen sind sie daher nicht verwendbar.

Quantitativ überwiegt der hier gepflegte, selektive Erinnerungsdiskurs im Schrifttum der Vertriebenen bis heute. Er hat in der Öffentlichkeit den Eindruck verfestigt, daß die kulturpolitischen Kompetenzen der Vertriebenenbasis sich verbraucht haben. An diesem Befund konnten auch die wissenschaftlichen und publizistischen Spitzenleistungen nichts ändern, die von zentralen Vertriebeneneinrichtungen gerade in den letzten Jahren vollbracht wurden.

In einem Neuzuschnitt der Kulturförderung könnte die Chancen für einen Neuanfang liegen – wenn er ohne ideologische Ressentiments vollzogen wird. Auf jeden Fall wäre eine Trennung der Geschichtsschreibung und -forschung von den Verbandsinteressen zu begrüßen.

Man muß seine Energie heute nicht mehr darauf konzentrieren, gegen Geschichtsklitterungen in der Nachbarschaft anzukämpfen. Man darf man gutwillige Nachbarn wie Marian Czekala aber auch nicht mit den eigenen Klitterungen abspeisen. Es ist nötig und möglich, daß die ostdeutsche lokale Historiographie in jeder Hinsicht tabufrei und diskutabel wird.


 
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