© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Wo die Elche in die Ewigkeit lauschen
Finnland: Karelien ist der verlorene Osten des nördlichsten EU-Landes
Adrian Sobek

Nur wenige Menschen dürften wissen, daß im Zuge des Zweiten Weltkrieges nicht nur die Staaten Mitteleuropas Gebietsverluste hinnehmen mußten, sondern auch Finnland betroffen war. Eine Diskussion über dieses Thema ist im restlichen Europa kaum jemanden bekannt, sie hat aber schon in der Vergangenheit im Finnland immer weite Kreise gezogen, wurde jedoch aus Rücksicht auf den mächtigen Nachbarn im Osten mit dem Begriff der "Außenpolitischen Liturgie", eine dem östlichen Nachbarn genehme Sprachregelung, bezeichnet. Zu Finnland fallen dem Durchschnittseuropäer meistens nur Elche, Mücken, Sauna und neuerdings Mikka Häkkinen ein – vom Börsenfieber Erfaßte denken wohl an den Handy-Weltmarktführer Nokia.

Dabei ist das Land mit 338.145 Quadratkilometern in etwa so groß wie Deutschland seit 1990, hat jedoch nur fünf Millionen Einwohner, der Anteil der vertriebenen – evakuierten, wie sie in Finnland genannt werden, Karelier beträgt etwa 12 Prozent. Die Abtretung Kareliens, dieses stillen, hauptsächlich aus Wäldern, Seen und Flüssen bestehen Landes, in dem es heute noch Bären und Wölfe gibt und wo die Elche in die Ewigkeit lauschen, gehört zu der eher unbekannten Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Stalin hat nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 26. August 1939 sein Imperium beachtlich nach Westen verschoben, ein Teil Polens und die baltischen Staaten wurden von der Roten Armee in die Sowjetunion einverleibt. Im November 1939 wurde Finnland aufgefordert, Teile Kareliens und das Vorfeld von Leningrad im Austausch gegen andere Gebiete der Sowjetunion zu überlassen. Als Finnland ablehnte, überfiel die Rote Armee am 29. November 1939 das Land, das sich zur Überraschung der Sowjets jedoch tapfer wehrte. Durch die Motti-Taktik (Einkesselung von kleinen Verbänden) gelang es den Finnen, bis zum März 1940 durchzuhalten und den Angreifern große Verluste zuzufügen, dann waren die Kräfte des Landes erschöpft. England, Frankreich und Südafrika schickten den Finnen Hilfe, das mit der Sowjetunion verbündete Deutsche Reich hingegen verhielt sich – sehr zum Unverständnis der Bevölkerung – neutral. Der Krieg kostete die Finnen 24.923 Tote und 43.577 Verwundete, ungleich größer waren die Verluste der Sowjets, die 48.745 Tote und 158.863 Verwundete betrugen. Im Frieden von Moskau am 12. März 1940 trat Finnland Teile Kareliens mit der Festung Viipuri, der mit 75.000 Einwohnern zweitgrößten finnischen Stadt, insgesamt etwa 27.000 Quadratkilometer an die Sowjetunion ab. 400.000 Einwohner wurden vor den Angreifern rechtzeitig evakuiert.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion im Sommer 1941führten die Finnen an der Seite der Deutschen den "Fortsetzungskrieg", der darauf abzielte, die Gebiete zurückzuholen. So legten sie auch besonderen Wert darauf, nicht als Verbündete Deutschlands, sondern als Kriegspartner zu gelten. Sofort nach der Rückeroberung der karelischen Gebiete im Juli 1941 kehrten ca. 300.000 Vertriebene auf ihre Höfe zurück. Das Glück währte jedoch nur drei Jahre, denn bereits im Sommer 1944 bat Finnland um Waffenstillstand, der am 19. September 1944 gewährt wurde. Wiederum wurden die Karelier von ihren Höfen evakuiert. Im Frieden von Paris am 10. Februar 1947 bestätigte Finnland die Grenzen von 1940 und mußte zusätzlich das Gebiet um die Stadt Petsamo im hohen Norden mit den Nickelgruben, das es im Frieden von Dorpat 1920 von der Sowjetunion erhielt, Teile von Kuusamo im Osten und Karelien im Süden abtreten sowie eine Landzunge in der Ostsee für 10 Jahre verpachten. Insgesamt betrugen die finnischen Gebietsverluste 43.000 Kilometer. Insgesamt siedelten 480.000 Menschen infolge dieser von Finnland vertraglich anerkannten Evakuierung, die das Zusammenbleiben des Gemeindeverbandes garantierte, in das verbliebene Gebiet über. Diese Übersiedlung wurde als die Folge eines freiwilligen Beschlusses bezeichnet, doch sollen nicht einmal 100 Personen zurückgeblieben sein. Die erfolgreiche Integration dieser großen Zahl bei nur 3,6 Millionen Einwohnern ist eine hervorragende Leistung. Soweit die Geschichte. Bereits einen Monat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 wurde der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit aufgekündigt.

Am 23. Juli 1998 forderte der Brigade-General Kari Hietanen in der Zeitung Helsingin Sanomat die Rückgabe Kareliens und die Umsiedlung der dort jetzt wohnenden 200.000 Russen, hauptsächlich Militärs und Beamte, in andere Gebiete Rußlands. Hietanen wurde prompt für seine Aussagen getadelt, denn es gibt aus dem Kreise der Militärs auch Stimmen, die sich gegen die Rückgabe aussprechen. Bereits am 29. März 1992 hat der Oberbefehlhaber der finnischen Streikräfte, General Gustav Hägglund, in der Zeitung Keskisuomailainen der Forderung nach der Rückgabe dieses Gebietes eine klare Absage erteilt, mit der Begründung, daß die Wohlstandsgrenze vor den Toren St. Petersburg verliefe und seitens Rußland wieder die Forderung nach einer Pufferzone laut werden könnte.

Es sei zwar eine rabiate Ungerechtigkeit gewesen, als Karelien weggenommen wurde, aber alle Ungerechtigkeiten können nicht korrigiert werden. Es wäre eine Dummheit, Karelien entgegenzunehmen, selbst wenn es auf einem goldenen Präsentierteller gereicht würde, so Hägglund. Die Kosten für den eventuellen Wiederaufbau werden auf 8,3 Milliarden Euro geschätzt.

Der in den Vereinigten Staaten wohnende finnische Geschäftsmann Jorma Hellevaara hat dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin angeboten, das Land für 400 Millionen Euro abzukaufen. Eine Antwort gab es nicht. Der kommunistische Dumavorsitzende Gennadij Selesnjow erklärte gegenüber der finnischen Zeitung Helsigin Sanomat am 28. Januar 1999: "Die Kreise, die territoriale Fragen aufwerfen, wollen nach meiner Meinung Unfrieden säen. Nach meinem Verständnis der offiziellen finnischen Politik hat Finnland keinerlei Gebietsansprüche an Rußland."

Man darf gespannt sein, wie sich die Situation weiterentwickelt, denn Rußland kann keinen Rubel in das marode Gebiet stecken.


 
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