© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Das Gelächter der Masse
In Zeiten der Spaßgesellschaft muß das Volk ohne geistige Führung auskommen
Nikolas Hartfeld

Hinaus in ferne Zukünfte, die kein Traum noch sah, sagt Nietzsches Prophet Zarathu stra einmal, sei er geflogen. Es spricht einiges dafür, daß der Philosoph nun, einhundert Jahre nach seinem Tod am 25. August 1900, endlich in der von ihm so oft prophezeiten Zeit angekommen ist, in der Zeit der Endkämpfe, der Umwertungen und letztlich der "letzten Menschen". Richtig hatte er bereits das Wesen des 20. Jahrhunderts antizipiert: "Die Zeit kommt, wo der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird, – er wird im Namen philosophischer Grundlehren geführt werden." Vor den Katastrophen und Schrecken zweier Weltkriege stehen donnernd seine seherischen Worte von 1888: "Es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat."

An Selbst- und Sendungsbewußtsein hat es ihm, dem großen Zertrümmerer und Umwerter aller Werte, nie gemangelt: "Es wird sich einmal mit meinem Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine bisher auf Erden gab." Zwar hat er sich mit der "Krisis" seiner Zeit, der schleichenden Dekadenz Ende des 19. Jahrhunderts, bis zum Schluß seines Lebenswerks auseinandergesetzt, doch galt sein Blick stets dabei auch der Zukunft: dem Übermorgen, wo er seine wahren Leser vermutete, kurz "wo man mich versteht".

Mit Heidegger lassen sich der Wille zur Macht, der Nihilismus, der Übermensch, die Ewige Wiederkehr des Gleichen sowie die neue Gerechtigkeit im Sinne einer neu definierten Moral als die "fünf Grundworte" der nietzscheanischen Metaphysik zusammenfassen. Diese Ingredienzen seiner späten Philosophie sind nur im Kontext der von ihm emphatisch geforderten künftigen "Umwertung aller Werte" sinnvoll und denkbar.

Mittels dieser Parameter Nietzsches Visionen für das Übermorgen mit der gegenwärtigen Situation an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu vergleichen, ist durchaus ambivalent. Hat man ihn endlich verstanden, ist der heimatlose Denker endlich in seiner Heimat angekommen? – Die Umwertung aller Werte läuft im Grunde seit 1918 auf Hochtouren; ganz Europa ist seit den Erschütterungen des Ersten Weltkrieges aus den Fugen geraten und im permanenten Wandel begriffen. Nach den krisenbedingten kommunistischen und faschistischen Diktaturen ist im Zeichen relativen kapitalistischen Wohlstands derzeit nur eine scheinbare Phase der Beruhigung eingetreten. Seit dem Eintritt der europäisch-christlichen Kultur in das Massenzeitalter sind die alten Werte außer Kraft, das vom Pastorensohn Nietzsche vehement angegriffene Christentum auf dem Weg zum von ihm prophezeiten "Totenbett". Dem Philosophen, der gern "mit dem Hammer" dachte, würde das vermutlich gefallen, ist doch ein gewisser Nihilismus, eine Entwertung der Werte, nicht zu verkennen. Nihilismus war für Nietzsche ein positiv besetzter Begriff, mußte für ihn der Schöpfer der Zukunft notwendig doch auch der Zerstörer der Gegenwart sein. Dabei war er kein bloßer Anarchist, schließlich predigte er den "aktiven Nihilismus" aus dem "Pessimismus der Stärke" heraus und bezeichnete sich selbst einmal in typisch überzeichnender Weise als den "ersten wahren Nihilisten Europas".

Auch der von Nietzsche als "Grundcharakter des Seienden" diagnostizierte Wille zur Macht hat nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt; er bildet das psychologische Handlungsmuster des modernen Menschen. Dagegen ist Nietzsches größter Entwurf für die Zukunft, der Übermensch, nach wie vor nicht in Sicht, obwohl sich die Genetik im täglichen Klonen von Schaf und Gemüse Schritt für Schritt seinen Überlegungen von "Zucht und Züchtung" des Menschen anzunähern scheint. Kürzlich hat der Philosoph Peter Sloterdijk dieses umstrittene "Zarathustra-Projekt" mit neuen Anregungen zur Schaffung des idealen Menschen im intellektuellen Diskurs neu belebt.

Mit dem Übermenschen und der erfolgreich abgeschlossenen Umwertung aller Werte fehlt folgerichtig auch die nietzscheanische neue Gerechtigkeit mit einer Moral jenseits von "Gut und Böse". Dafür scheint eine andere Spezies aus Nietzsches Werk in der Gegenwart zahlreich vorhanden: der "letzte Mensch", der Zarathustra glückselig anblinzelt und nur seinen lustvollen Untergang will – das letzte Stadium vor dem Übermenschen. Unsere heutige Spaßgesellschaft in ihrer depravierenden Durchschnittlichkeit ist im Grunde nichts anderes als eben jene von Nietzsche vorhergesagte Welt der "letzten Menschen". Es ist die Welt des sozialen Massenzeitalters: "Wir haben das Glück erfunden", sagen die letzten Menschen. "Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich!" Wo der Wille zum Spaß dominiert, fehlt die Fähigkeit zur Selbstüberwindung: "Wir schenken dir deinen Übermenschen", halten sie Zarathustra entgegen und schnalzen begierig mit der Zunge.

Die Produkte der multimedialen Spaßgesellschaft dringen scheinbar unabänderlich und mit dem Selbstbewußtsein des Notwendigen ausgestattet Tag für Tag in die deutschen Wohnzimmer. Burleske TV-Gestalten wie Zlatko, Verona oder Dr. Motte haben längst den gesellschaftlichen Wertekanon erobert. Nun hat es in Deutschland stets – zumal in Krisenzeiten – eine eigentümliche Begeisterung für Harlekinfiguren á la Till Eulenspiegel im Mittelalter, Grimmelshausens Simplicissimus inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges oder Oskar Matzerat aus Grass’ "Blechtrommel" gegeben, doch hatten sie bislang zwar die Sympathien des Publikums erobert, nicht aber moralische Werte gesetzt. Daß sie dies nunmehr können, ist ein deutliches Krisen- und Dekadenzsymptom. Denn ein Kriterium der derzeitigen Spaßgesellschaft ist ja nicht nur der allgegenwärtige Drang nach Unterhaltung, sondern auch die permanente Ironie, mit der selbst das Normalste noch dem Gelächter der Masse preisgegeben wird. Ironie aber ist ein Zeichen von Schwäche und Unsicherheit. Früher ein Mittel des Konservativen, der aus den Fugen geratenen Welt zu begegnen, ist sie in ihrer Inflation nun ein Indiz dafür, daß das Volk ohne geistige Führung auskommen muß.

Genießen wir diese Zeit, in Zukunft warten noch ganz andere, ernstere Auseinandersetzungen. Nietzsche hatte ein Leben lang der Glaube an die Logik einer Lebenswahrheit aufgerichtet. In diesem Sinne verstand er auch die Ewige Wiederkehr des Gleichen mit der Möglichkeit des "Großen Mittags", Nietzsches größtmöglichem Glücksmoment. Doch kein Übermensch ohne den "letzten Menschen". So ist die gegenwärtige Übergangszeit unabdingbarer Bestandteil des nach Nietzsche sich stets perpetuierenden Weltenlaufs: Die Ewige Wiederkehr des Gleichen macht auch vor dem ewig gleichen Zlatko nicht halt.


 
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