© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Das amerikanische Dünkirchen
Michael Linds Neubewertung des US-Engagements in Vietnam
Michael Wiesberg

Viele Zeitgenossen werden folgende Bilder noch im Gedächtnis haben: Am 30. April 1975 stießen nordvietnamesische T-54 Panzer auf das Gelände des südvietnamesischen Präsidentenpalastes vor. Ihnen folgten nordvietnamesische Soldaten, die die rot-blaue Vietcongfahne als Zeichen des Sieges über Frankreich und die USA hißten. Dieses Ereignis markierte das definitive Ende des amerikanischen Indochina-Engagements und bedeutete eine nicht für möglich gehaltene Demütigung der Supermacht USA durch eine, militärisch gesehen, drittklassige Regionalmacht. Über die Motive für das Engagement in Vietnam ist in den USA eine neuerliche Diskussion entbrannt, für die das hier anzuzeigende Buch "The Necessary War" von Michael Lind steht. Lind, der sich als konservativer Publizist in den USA einen Namen gemacht hat, ist derzeit Herausgeber des renommierten Periodikums Harper‘s Magazine, das seine Redaktion in Washington hat.

Wie bereits im Titel ("Der notwendige Krieg") ersichtlich, versucht Lind in seinem Buch eine Apologie der amerikanischen Intervention in Vietnam. Er wählt für die Untermauerung seiner Thesen die geopolitische bzw. strategische Perspektive, stellt also diesen Krieg in den Kontext des Kalten Krieges. In diesem Ansatz liegt die differentia specifica zu vielen anderen Autoren. Das Indochina-Debakel sei, so die zentrale These von Lind, das "Dünkirchen" der militärischen Anstrengungen der USA während des Kalten Krieges (den der Autor als "Dritten Weltkrieg" bezeichnet) gewesen. Lind spielt mit diesem Vergleich auf die Evakuierung des britischen Expeditionskorps Anfang Juni 1940 an. Er verweist darauf, daß Winston Churchill die seiner Ansicht nach falsche Euphorie über die gelungene Evakuierung der britischen Soldaten schnell zurechtrückte. Kriege, so Churchill, würden nicht durch Evakuierungen gewonnen. Der hastige Rückzug der Amerikaner aus Vietnam, weltweit dokumentiert durch die Medien, ließ eine derartige Euphorie, wie sie 1940 in Großbritannien vorhanden war, von vornherein nicht aufkommen. Im Gegenteil: Die ostentative Machtlosigkeit der Supermacht USA gegenüber den kommunistischen Dschungelkämpfern vervollständigte das Bild einer demütigenden Niederlage.

Lind versucht nun, diese Niederlage im Kontext des Kalten Krieges zu verorten. Er unterteilt den Kalten Krieg in zwei Phasen, die durch das Ende des Vietnam-Krieges im Jahre 1975 getrennt seien. Im Korea-Krieg (1950–1953) hätten die USA ihren Willen unterstrichen, ihre Einflußzonen zu verteidigen. Dieser Wille sei auch für das Eingreifen in Vietnam maßgebend gewesen, wo es aus Sicht der USA darum gegangen sei, das von sowjetischer Hilfe abhängige kommunistische Regime in Hanoi daran zu hindern, nichtkommunistische Staaten zu penetrieren. Eine mögliche Passivität der USA in dieser Frage hätte in den Augen Linds verheerende Auswirkungen auf das Vertrauen der amerikanischen Alliierten gehabt. Das Desaster, das die Amerikaner in Vietnam erlebten, beendete aus der Sicht von Lind die erste Phase des Kalten Krieges und führte in eine neue Ära des Kalten Krieges. In dieser zweiten Phase hätte die gedemütigte westliche Supermacht enorme Anstrengungen unternommen, um den Sieg der Nordvietnamesen und ihrer sowjetischen Protegés nachträglich in eine Niederlage zu verwandeln. Aus heutiger Perspektive, zehn Jahre nach dem für die USA "siegreichen" Ende des Kalten Krieges, verkleinert sich nach Linds Auffassung die Vietnam-Expedition zur eher atypischen Episode amerikanischer Geschichte.

Lind legt Wert auf die Feststellung, daß die Niederlage in Vietnam keine militärische (wie die der Franzosen in Dien Bien Phu 1954) war, sondern eine politische. Die USA seien zu keinem Zeitpunkt in offener Feldschlacht geschlagen worden. Die Sieger seien die kommunistischen Guerilla des Südens gewesen, nicht aber die Vietcong-Truppen. Wie viele andere Autoren vor ihm deutet auch Lind die Tet-Offensive (1968) als Wendepunkt in der amerikanischen Vietnam-Politik. Diese Offensive wäre zwar ein militärisches Desaster für Hanoi gewesen, wäre aber dennoch in einen politisch-strategischen Sieg der Kommunisten gemündet. Lind spricht in diesem Zusammenhang auch den demoralisierenden Druck der "Heimatfront" an, die auf Kriegsbilder aus dem Dschungel mit einem überwältigenden Votum für einen möglichst schnellen Rückzug aus dem Mahlstrom Indochina reagiert hätte. Nicht nur an dieser Stelle überzieht Lind seine Apologie, wenn er feststellt, die USA hätten sich ab 1968 auch deshalb so schnell zurückgezogen, um an der "Heimatfront" wieder jenen Konsens herstellen zu können, der die Voraussetzung für das erfolgreiche Bestehen im weltweiten Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewesen wäre. Trotz dieser teilweise hypertrophen Apologetik enthält Linds Studie aber eine Reihe interessanter Thesen und Einsichten, die die Lektüre dieses Buches allemal lohnen. Nachzutragen bleibt, daß das Werk in den USA vom linksliberalen Lager scharf angegriffen wurde. Diese Kritik dürfte aber eher Linds scharfer Abrechnung mit den Gegnern des Vietnamkrieges als dem sachlichen Gehalt seiner Thesen geschuldet sein.

 

Michael Lind: Vietnam: The Necessary War. A Reinterpretation of America‘s Most Disastrous Military Conflict. New York, The Free Press, 1999, 320 Seiten, 25 Dollar.


 
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