© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Der Charme des Exotischen
Kino II: "Keiner weniger" von Zhang Yimou
Ellen Kositza

China, Provinz Hebei, Heute: Da der Dorflehrer Gao (Gao Enman) für einen Monat ausfällt, soll die dreizehnjährige Wei Minzhi (Wie Minzhi) es übernehmen, die Mädchen und Jungen der kleinen Schule in der entlegenen Bergregion zu unterrichten. Zwei Weisungen erhält das Mädchen von Gao: Sie darf nicht mehr als ein Stück Kreide täglich verbrauchen – denn Kreide ist teuer –, und in jedem Fall hat sie zu verhindern, daß einer der Schüler von der Schule fortläuft. Ihm, dem erfahrenen Lehrer selbst, sind dabei in diesem Jahr bereits zwölf Schüler entflohen, meist weil sie aus Armut gezwungen waren, Geld zu verdienen. "Keiner weniger" ist also der ultimative Auftrag, den Wei Minzhi zu erfüllen hat, falls sie am Ende des Monats ihren schmalen Lohn erhalten möchte.

Nun ist die frischgebackene Vertretungslehrerin selbst noch ein Kind und als solches bar qualifizierter pädagogischer Qualifikationen. Eine Lehrerin können und wollen auch die Schüler nicht in ihr sehen, Wei Minzhis Anweisungen werden selten befolgt. Während sie von draußen die Schultür bewacht, damit niemand weglaufen kann, kümmern sich ihre Zöglinge, oft kaum jünger als ihre "Lehrerin", wenig um die an die Tafel geschriebenen Lektionen, statt dessen wird wild getobt – ohne Rücksicht auf die wertvolle Kreide, die als zertretener Staub bald den Boden bedeckt. Kritisch wird es, als während eines unbeholfenen Fahnenappells eine Gruppe Männer aus der Stadt auftauchen, Talentsucher, die die hervorragende Sportlerin Min Xinhong zu einer Hochleistungsausbildung in die Stadt mitnehmen wollen. Wei Minzhis Plan, ihre Schülerin zu verstecken, scheitert, und am nächsten Tag fehlt auch noch ein weiterer Schüler: Zhang Huike, der Klassenclown. Nachdem Wei Minzhi dessen Mutter, verwitwet und schwerkrank, in ihrer armseligen Lehmhütte aufgesucht und erfahren hat, daß der Elfjährige zum Geldverdienen in die Stadt gegangen sei, beschließt die Junglehrerein, sich gemeinsam mit der Klasse auf die Suche nach dem Abtrünnigen zu machen – was sich als Weg voller Hindernisse erweist. Mit dem unerschütterlichen Mut einer völlig Ahnungslosen macht sich Wei Minzhi, das Kind aus dem einsamen Land hinter den sieben Bergen, auf den Weg dorthin, wo das Leben pulsiert. Ihr Auftrag, und längst nicht mehr das Geld, ist ihr heilig ...

Es ist eine sehr anrührende Geschichte, die Zhang Yimou, der außer für seine Regiearbeit auch als Kameramann und Schauspieler zumindest zu nationalem Ruhm gelangte, hier erzählt. Für den westlichen Zuschauer wohnt ihr zusätzlich der Charme des Exotischen, womöglich einer leicht hinterweltlerischen Zurückgebliebenheit inne. Daß sämtliche Personen von Laien dargestellt werden, verstärkt diesen beabsichtigten Eindruck. Es ist ein langsamer Film, einer, den man sich hellwach anschauen sollte, um nicht zu ermüden, Kino für Kulturbeflissene. "Keiner weniger" vermittelt dabei nicht wirklich ein Stimmungsbild des fernen Ostens, er suggeriert dies aber und läßt Germanistikstudentinnen und Herren mit Vollbart mit feinem Lächeln auf den Lippen auf die Straße treten: Einfach schön war das –auch wenn kein Bild verbleibt.

Zhang Yimou, einst politischer Rebell, heute der etablierte Filmemacher der Volksrepublik, ist seit 1988 in Deutschland bekannt, damals wurde er mit dem "Goldenen Bären" der Berlinale geehrt, eine Oscar-Nominierung brachte ihm später sein Film "Rote Laterne" ein. Zumal derzeit von der Porno-Industrie bis zum Asia-Nudelsnack das Asiatische im allgemeinen einen gewissen Trend darstellt, wird auch dieses Werk – weder eine alltägliche Geschichte noch ein Mounmentalstreifen oder dem Heimatgenre verhaftet – sein Publikum finden.


 
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