© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Kolumne
Schuld anderer
von Klaus Motschmann

Zu den wesentlichen Erfahrungen menschlicher Daseinsgestaltung gehört das Erlebnis des Widerspruchs von Verheißung und Erfüllung, von Idee und Wirklichkeit. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, den daraus resultierenden Spannungszustand zu überwinden, zumindest erträglich zu machen. Die einfachste liegt in dem Eingeständnis des eigenen Versagens aufgrund eigener Fehleinschätzungen gemäß der bewährten Grundregel: Bevor man mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, sollte man daran denken, daß dann drei Finger auf einen selber zurückweisen. Es ist keine Schande, guten Glaubens und bester Absicht nach Lösungen gesucht zu haben, die es nicht bzw. noch nicht gibt. "In Irrtum verfallen, beschieden ist` s allen; im Irrtum verharren, ist Vorrecht der Narren" (Cicero). Wer möchte einem Arzt unverantwortliches Handeln vorwerfen, wenn er bei seinen krebskranken Patienten mit einer neuen Therapie Hoffnungen auf Genesung weckt, die sich nicht erfüllen? Unverantwortlich, ja kriminell handelt dieser Arzt jedoch dann, wenn er aus dieser Erfahrung keine Konsequenzen zieht, die Behandlung wider besseres Wissen mit noch härteren Dosen fortsetzt, um auf diese Weise um das Eingeständnis seines Irrtums herumzukommen.

Damit ist die zweite, heute weithin übliche Methode der Behebung einer kognitiven Dissonanz angedeutet, die allerdings so neu nicht ist und gewissermaßen zur seelischen Grundausstattung des Menschen gehört: Sie lenkt von der eigenen Schuld durch Hinweis auf die Schuld anderer ab. Musterbeispiele dafür liefert jede Epoche der Geschichte, insbesondere der durch keine geschichtliche Erfahrung zu beeindruckende Irrglaube an die Möglichkeit einer totalen Ausmerzung aller politisch-gesellschaftlichen Übel durch staatliche Gewalt, politische Ausgrenzung und gesellschaftliche Ächtung. Niemand, der die vergangenen 20 bis 30 Jahre bewußt erlebt hat und nicht an totalem Gedächtnisschwund leidet, wird bestreiten wollen, daß politisch-gesellschaftliche Probleme auf diese Weise zwar einige Zeit zurückgedrängt, aber eben nicht gelöst worden sind. Was also berechtigt zu der Hoffnung, daß dies in Zukunft der Fall sein könnte? Einstweilen nichts!

Deshalb liegt der Verdacht nahe, daß maßgebende Konfliktstrategen an einer verantwortlichen, rechtsstaatlichen Lösung des Problems Rechtextremismus gar nicht interessiert sind, weil der Antifaschismus ohne erkennbaren "Faschismus" nur noch den Sinn eines Schneepfluges in der Sahara hätte.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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