© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
Unlogisch und verwirrend
Vor einem Jahr wurde in den meisten Medien die neue Rechtschreibung eingeführt
Manfred Riebe

Ein Jahr nach der zwangsweisen Einführung der neuen Recht schreibung in den Schulen paßten sich am 1. August 1999 die meisten Zeitungen freiwillig an, allerdings mit einer eigenen Presse-Orthographie. Aber beherrschen die Journalisten als Profis heute den Neuschreibung besser als die Schüler?

Manche Kritiker der Rechtschreibreform bezeichnen die neue Schreibung als "Primitiv- und Beliebigkeitsschreibung". Handelt es sich bei diesen beiden Begriffen um emotional aufgeladene Kampfbezeichnungen, oder kennzeichnen diese thesenartigen Begriffe die Wirklichkeit?

Die Rechtschreibung gehört zum Handwerkszeug der Schreibberufler. Die Schreib-Elite der Schriftsteller, Journalisten, Übersetzer, Lektoren, Lehrer und Hochschullehrer bedient sich im Regelfall grammatisch präziser, semantisch eindeutiger und ästhetischer Schreibweisen. Aber nun liest man plötzlich Sätze wie: "Der Kultusminister berichtete, die neue Rechtschreibung sei viel einfacher, die Schüler machten nun 40 Prozent weniger Fehler. Dann wandte sich der viel versprechende Minister einem anderen Thema zu." Ist der Minister ein vielversprechender Hoffnungsträger oder ein viel versprechender Schaumschläger? Durch solche neuen Getrenntschreibungen wie "viel versprechend" geht die Eindeutigkeit der Sprache verloren; die "Reformer" haben willkürlich in die Grammatik und den Bedeutungsbereich der Sprache (Semantik) eingegriffen.

Auch bei der Großschreibung kann man dies erkennen. Man liest nun in den Zeitungen: "Ein 50-Jähriger". Was ist aber ein "Jähriger"? Das Hauptwort "der Jährige" gibt es nicht. Man könnte glauben, die "Reformer" hätten bei ihren Zusammenkünften in Wien den Heurigen über Gebühr genossen, so daß sie "hier zu Lande" (bisher richtig: hierzulande) wenig "beim Alten" (bisher richtig: beim alten) lassen wollten.

Neunzig Prozent der reformierten Schreibungen betreffen die Ersetzung von "ß" durch "ss". Die neue ß/ss-Regelung dient lediglich als Füllmaterial, um überhaupt eine Reform nötig erscheinen zu lassen. In Wirklichkeit steigen gerade durch diese neue ß/ss-Regelung die Fehlerzahlen stark an. Trotzdem wird an der Regel festgehalten, weil ihre Rücknahme zusammen mit bereits erfolgten bzw. sich abzeichnenden Wiederzulassungen bisheriger Schreibungen das Kartenhaus "Rechtschreibreform" für jedermann sichtbar zusammenbrechen lassen würde. Dem stehen politische Interessen (Gesichtsverlust) und die wirtschaftlichen Interessen von großen Verlagen entgegen, denen so ein weltweites Geschäft mit immer neuen Wörterbüchern und Schulbüchern entginge.

Für die Leser verschwinden infolge der neuen ss-Schreibung die Wortbinnengrenzen, die zuvor durch das "ß" gekennzeichnet wurden. Bei Wörtern wie Schlossstraße (Schloßstraße), Missstimmung oder anderen neuen Dreikonsonantenschreibungen wie Krepppapier leidet nicht nur die Leserlichkeit, sondern sie wirken auch plump, unbeholfen und damit unästhetisch und zeugen von fehlendem Schönheitssinn. Ebenso leserunfreundlich und obendrein unlogisch sind viele Silbentrennungen am Zeilenende: Was ist eine Buche-cker, eine Frust-ration, ein Tee-nager oder eine Walda-meise?

Genauso große Hürden für das Leseverständnis haben die Reformer bei der Kommasetzung aufgebaut; zum Beispiel braucht vor ""und" und erweitertem Infinitiv kein Komma mehr zu stehen: Der Vater schlachtete eine fette Gans und Peter lud er ein am Festmahl teilzunehmen. Manche Sätze muß man zweimal lesen, um sie zu verstehen. Die Nachrichtenagenturen behielten deswegen die bewährte Kommasetzung bei.

Die Germanisierung von Fremdwörtern Portmonee, Nessessär, Spagetti oder Varietee erinnert an die Rechtschreibreform Hitlers aus dem Jahre 1944. Die Reformer behalten zwar "Orthographie" als Hauptform bei, lassen aber "Orthografie" als Nebenvariante zu. Aber die Nachrichtenagenturen und Zeitungen und manche Pädagogen wählen trotzdem die Nebenvariante, um fortschrittlich zu erscheinen: Je reformierter, desto progressiver! Eingedeutscht wurde auch das Wort "Tip" in das plumpe "Tipp". Das ist unlogisch; denn das englische Wort "Tip" hat mit "tippen" überhaupt nichts zu tun. Konsequenterweise hätte man dann zum Beispiel auch fitt, Hitt, Slipp, Stripp, Flopp, Popp, Topp schreiben müssen. Hinzu kommen falsche etymologische Ableitungen: "behände", bisher: behende, "belämmert", bisher: belemmert; "gräulich", bisher: greulich.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die grammatisch präzise und ästhetische, traditionelle Schreibweise der Schreibberufler durch die Neuregelung in eine Schreibung von geringerem geistig-kulturellen Niveau umgewandelt wurde. Die Reformer haben das Präzisionsinstrument der Schriftsprache in ein recht grobes Werkzeug zurückverwandelt.

Das große Verdienst Konrad Dudens war die Vereinheitlichung der Schreibweisen. Aber die Reformer lassen Varianten- und Ausnahmeschreibungen zu. So weichen manche neuen eingedeutschten Schreibweisen von der englischen Schreibweise ab, zum Beispiel Newage, Standingovations. Wenn im Deutschen das gleiche englische Wort anders geschrieben wird als im Englischunterricht, kommt es unweigerlich zu Interferenzen. Dieses Phänomen ist auf dem Gebiet der Rechtschreibdidaktik als "Ranschburgsche Hemmung" bekannt, die 1905 von dem Psychologen Ranschburg nachgewiesene Hemmung des Gedächtnisses bei der Reproduktion ähnlicher Lerninhalte durch Mangel an gestaltlicher Differenzierung. Die viersprachige Schweiz beharrt deshalb auf der Schreibweise der Wörter in der jeweiligen Ursprungssprache.

Im nicht-schulischen Bereich sind die Schreibweisen nun zersplittert in die traditionelle Einheitsorthographie der Literatur und in unzählige abweichende Schreibweisen in den verschiedenen Wörterbüchern und Hausorthographien der Verlage und Nachrichtenagenturen. Beim Lesen umgestellter Zeitungen entdeckt man seit einiger Zeit eine fehlerhafte Mischung aus traditioneller normaler Rechtschreibung, neuer Schreibung und Schreibweisen, die sowohl nach überkommenen als auch nach den neuen Regeln falsch sind, kurz gesagt, eine Beliebigkeitsschreibung.

Die jungen Menschen werden ihr Leben lang weiter der traditionellen Rechtschreibung begegnen, weil es gar nicht denkbar ist, geschweige denn bezahlbar wäre, alle Bücher in öffentlichen und privaten Bibliotheken zu ersetzen. Es werden über Jahrzehnte hinweg störende Interferenzen auftreten; denn die Menschen haben größte Schwierigkeiten, das bisher Richtige zu vergessen und etwas Ähnliches an seine Stelle zu setzen.

Das Ziel der Reformer war eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Rechtschreibung mit weniger Rechtschreibfehlern. Dieses Ziel wurde in sein Gegenteil verkehrt. Jetzt wird ein vereinfachtes, aber fehlerhaftes und mißverständliches Deutsch geschrieben, das die feinen Unterschiede im Ausdruck, die sich herausgebildet haben, wieder einebnet. Deswegen sprechen wir von einer "Primitiv- und Beliebigkeitsschreibung" Auch in den umgestellten Zeitungen wimmelt es von Fehlern, wie zum Beispiel kürzlich am Beispiel einer Spiegel-Ausgabe untersucht wurde. Soll man in Zukunft an der traditionellen Schreibweise den sprachlich Gebildeten und an der neuen "Primitiv- und Beliebigkeitsschreibung" den sprachlich Ungebildeten, Gleichgültigen erkennen, der sich auf das unvollkommene Rechtschreibprogramm seines Computers verlassen muß?

Die Reformer halten zwar wegen der festgestellten Mängel eine Reform der Reform für "unumgänglich", aber der "keiser, der den al im bot isst", ist noch nicht tot! Was 1996 noch nicht durchsetzbar war, wird im Jahr 2005 erneut auf die Tagesordnung setzen: die konsequente Kleinschreibung und die Preisgabe der Unterscheidungsschreibung, der Dehnungszeichen und insbesondere die völlige Abschaffung des "ß". Der Reformer Professor Dieter Nerius, Rostock, bestätigte dies, die Reform sei nur "ein Schritt in Richtung auf die angeführte Zielsetzung".

 

Manfred Riebe, Oberstudienrat, ist Vorsitzender des "Vereins für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V." (VRS). Kontakt: Max-Reger-Str. 99, 90571 Schwaig. Tel. 09 11 / 506 74 22, Fax: 09 11 / 506 74 23. Netzpost: manfred.riebe@raytec.de .


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen