© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
Gott buchstabiert nicht
Wissenschaftler rufen das "postgenomische Zeitalter" aus
Günter Zehm

Gott würfelt nicht, sagte Einstein. "Gott buchstabiert auch nicht", sagt der Wissenschaftshistoriker und Delbrück-Schüler Ernst Peter Fischer aus Konstanz. Es gibt kein "Buch des Lebens", das Gott geschrieben hat und dessen Buchstabenfolge die Genetiker jetzt komplett zusammengestellt haben, in der Hoffnung, es einst auch lesen zu können. Diese Hoffnung, sagt Fischer, könnte sich als die größte Illusion der Wissenschaftsgeschichte erweisen.

Weniger theologisch ausgedrückt: Das Genom ist nur in unseren menschlichen Augen, in den Augen der Forscher, ein "Text"; in der Wirklichkeit der innerzellularen Prozesse hingegen ist es eine Säure-Struktur, die auf unendlich komplizierte Weise mit den übrigen molekularen Bestandteilen der Zelle verknüpft ist. Die Vorstellung, daß die Zelle das Genom "liest", bevor sie sich zu entwickeln beginnt - diese Vorstellung, sagt Fischer (mit nur oberflächlich unterdrücktem Hohn in der Stimme), ist ungefähr so realistisch wie die Vorstellung, daß ein Krokodil erst einmal eine Gebrauchsanweisung liest, bevor es seine Kiefer in Bewegung setzt.

Schon der große Naturbeobachter Goethe hat energisch davor gewarnt, das Gemachte vom Machen zu trennen und das Machen als "Verwirklichung" eines "Plans" hinzustellen. Es gibt, lehrte er, nur eine "Form, die lebendig sich entwickelt". Fischer stimmt dem ohne Einschränkung zu. Zu glauben, daß es ein vom eigentlichen Leben unabhängiges "Programm" gäbe, das diesem vorausgehe, beruhe auf der Verwechslung der Natur mit einem Computer. Zitat Ernst Peter Fischer (aus der letzten Ausgabe der Züricher Universitätszeitung): "Da entlehnt man einen Begriff aus der Computerwelt, ohne zu merken, daß diese wunderbaren Maschinen zwar alles Mögliche können, aber eben nicht das eine, um das es geht. Kein Computer kann sich selbst zusammensetzen und seine Chips geeignet zusammenstecken."

Auf die Verhältnisse im Inneren der Zelle angewendet, heißt das: Die "nackte DNA" existiert dort gar nicht, vielmehr findet sich ein verwickeltes Gesamtbild, von dem die DNA nur ein integraler Teil ist, eine komplexe Struktur, die vielfach gefaltet und gebogen ist, keine Kette von Buchstaben, sondern etwas, das Fischer ein "mehrdimensionales Gewebe" nennt. Dieses Gewebe erinnert eher an ein Bild, an eine Plastik à la Michelangelo denn an ein Buch, einen Text.

Damit hängt wohl zusammen, daß die Forscher mit bereits entschlüsselten Gen-Gruppen immer wieder die irritierendsten Erfahrungen machen. Seit Jahren kennt man etwa die sogenannten Brustkrebsgene (BRCA 1 und BRCA 2), die den erblichen Anteil zu einem Mammakarzinom liefern. Aber man kann mit dieser Kenntnis nichts anfangen, weiß weder, was ihre "normale", unpathogene Funktion ist, noch wie sie genau zur Entstehung des lebensgefährlichen Tumors beitragen. Sie tragen dazu bei, das weiß man gewiß. Doch die Entstehung des Tumors selbst ist ein hochkomplizierter Prozeß, dessen Ob und Wie sich keineswegs simpel von irgendeiner Sequenz ablesen läßt.

Die Gene sind in dieser Sichtweise keine Zeichen und keine Befehlsimpulse, sondern eine Art Raumfaktor, Säulen und Kapitelle beispielsweise, die die Ordnung der Struktur aufrechterhalten. Ihre Sequenzierung, die zur Zeit so sehr gefeiert wird, verspricht allenfalls diagnostischen, keinen therapeutischen Nutzen; es kommt stattdessen darauf an, sie mit einer Fülle zusätzlicher Fakten in Beziehung zu setzen, die Wechselwirkungen zwischen den diversen Faktoren zu erforschen, zu vergleichen, zu experimentieren, mit einem Wort: endlich mit jener Arbeit zu beginnen, die bisher nur scheinbar geleistet worden ist.

Viele Forscher haben übrigens, ohne sich sonderlich um das Propagandagetöse der Sequenzierer zu kümmern, bereits mit der Arbeit begonnen. Sie sprechen vom "postgenomischen Zeitalter", das angebrochen sei, sind überzeugt davon, daß es bei künftigen Therapien nicht damit getan ist, einfach in der Gensequenz herumzuschneiden, sondern daß es darauf ankommt, den "Ort" des jeweiligen Gens in der Zelle zu bestimmen, seine räumliche und zeitliche Stellung zu anderen Zellbestandteilen, nicht zuletzt seine "Geschichte", ob es also nur noch totes Gestein ist oder vielleicht doch ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann.

"Postgenomisches Zeitalter" - das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß eine der angeblich modernsten Metaphern der Wissenschaftssprache, eben die Rede vom Gen als einem Buchstaben und von der Gensequenz als einem Buch, schon wieder zu Grabe getragen wird. Das Genom ist kein Buch, und es ist ein "Text" nur insofern, als es vom lebendigen Organismus gesprochen werden kann und auch gesprochen wird.

Schon hört man die Vertreter der televisionären Richtung unter den Semiotikern über die Vertreter der literarischen, der Gutenberg-Richtung triumphieren. Wieder einmal, so mag es bald landauf, landab tönen, habe sich das Bildersehen gegenüber dem Textbuchstabieren durchgesetzt. Gott buchstabiere zwar nicht, aber er habe ein Wohlgefallen am Gestaltsehen, am Piktogramm, an der Grammatik der Bilder.

Aber man freue sich nicht zu früh. Ein Gott, der es nicht nötig hat, Bücher zu schreiben, hat es auch nicht nötig, Filme zu drehen oder gar selber ins Kino zu gehen. Auch die neue, postgenomische Zellular- oder Eiweißmetaphorik ist nur ein menschliches Hilfsmittel, mit dem wir versuchen, uns die Welt ein bißchen angenehmer und operabler zu machen. Auch sie verbirgt letztlich mehr, als sie entbirgt.

Immerhin klingt sie freundlicher als die alte Sequenzierungs-Metaphorik. Das Innere der Zelle ist nun kein Kasernenhof mehr, auf dem die Eiweiß-Moleküle vor den Genen strammstehen und exerzieren. Es gleicht mehr einem Tempelinneren mit Rundbögen, Säulen und Kapitellen. Gut so.


 
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