© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
Der frühe Tod der Deutschen
Warum die Regierung Kohl Zahlen manipulierte - Was die Deutschen nicht wissen durften
Michael Wiesberg

So lügt man mit Statistik", lautet ein bekanntes Buch des Dortmun der Wirtschafts- und Sozialstati stikers Walter Krämer. Mitglieder der Regierung Kohl haben dieses Büchlein ganz offensichtlich aufmerksam studiert und ihre Lehren daraus gezogen. Wie gelehrig die Kohl-Regierung war, wurde dieser Tage offensichtlich: Nach Angaben der Berliner Zeitung hat das Statistische Bundesamt in aller Stille einen "Riesenskandal" korrigiert. In der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung" wird nicht mehr, wie 1996, behauptet, daß die Lebenserwartung der Deutschen ab Januar 2000 nicht mehr steigen würde. Diese Behauptung hätte sowieso kein Fachmann geglaubt. Daß diese dennoch ohne großen Widerspruch hingenommen wurde, dafür sorgte das damalige Bundesinnenministerium, das die Beamten des Statistischen Bundesamtes unter Druck gesetzt hatte, Zahlen zu verbreiten, die eindeutig manipuliert gewesen waren. Hintergrund dieses Winkelzugs soll die damals einsetzende Diskussion um die Rentenreform gewesen sein. Wäre damals eine steigende Lebenserwartung zugrunde gelegt worden, hätten "sofort drastische Schritte zur Änderung des Rentensystems" eingeleitet werden müssen, die der Regierung Kohl politisch nicht opportun erschienen. Wertvolle Zeit wurde vertan, in der der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU) die deutsche Öffentlichheit weiter mit seiner Lüge von den "sicheren Renten" narkotisierte.

Aber auch die jetzige Bundesregierung hat die Zahlen nicht gleich nach Bekanntwerden der offensichtlichen Manipulationen korrigiert. Fast ein dreiviertel Jahr ließ die rot-grüne Regierung das brisante Zahlenmaterial unter Verschluß, bis sie sich bequemte, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren. Der Grund für diese Vernebelungstaktik: Bis zum Jahre 2035 können die Deutschen damit rechnen, durchschnittlich bis zu vier Jahre älter als heute zu werden.

Diese höhere Lebenserwartung hat für die Rentenzahlungen in Form von deutlichen Mehraufwendungen erhebliche Konsequenzen. Gleiches gilt für die Gesundheitsversorgung und die Pflegeleistungen.

Warum die sich abzeichnenden Probleme im Hinblick auf die Finanzierung der Rentenversicherung sowohl von der rotgrünen als auch von ihrer Vorgängerregierung der Öffentlichkeit solange bewußt vorenthalten worden sind, darauf hat der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Lester Thurow eine plausible Antwort gegeben: "Politisch sind die Alten schon jetzt unschlagbar, auch wenn sie rein zahlenmäßig noch lange keine Bevölkerungsmehrheit stellen", schreibt Thurow in seinem Buch "Die Zukunft des Kapitalismus". Die Unterachtzehnjährigen hätten kein Stimmrecht und die Achtzehn- bis Dreißigjährigen nutzten oft ihr Wahlrecht nicht. Vor diesem Hintergrund stellt Thurow fest: "Die wirtschaftlichen Forderungen der Alten werden zu einem Härtetest für die Demokratie. Kann es einer demokratisch gewählten Regierung gelingen, Sozialleistungen für eine Wählergruppe zu beschneiden, die in der Zukunft nahezu die Mehrheit stellen wird?"

Diese Herausforderung ist die eine Nagelprobe, die die Deutschen zu bestehen haben. Die andere betrifft die dramatische Schrumpfung der deutschstämmigen Bevölkerung. Die neue Bevölkerungsberechnung läßt keine Illusionen über die Zukunft der Deutschen mehr aufkommen. Wir stehen im Grunde genommen am Ende von 1000 Jahren deutscher Geschichte. Gäbe es keine Einwanderung, hätte Deutschland im Jahre 2050 nur noch die Hälfte der heutigen Bevölkerung. Soll die Bevölkerung auf ca. 70 Millionen Menschen gehalten werden, benötigt Deutschland jährlich eine Zuwanderung von 200.000 Menschen. Es versteht sich von selbst, daß Deutschland vor diesem Hintergrund seine Position als eine der weltweit führenden Industrienationen nicht halten können wird.

Viel schwerwiegender aber ist die Erkenntnis, daß der Weg Deutschlands in einen multiethnischen Staat ganz offensichtlich unabwendbar ist. Der Berliner Zeitung muß recht gegeben werden, wenn sie feststellt: "Die Deutschen werden bald und unausweichlich eine Minderheit unter anderen sein - wenn auch die größte." Was das konkret heißt, darüber läßt die Autorin des Artikels keinen Zweifel aufkommen: "überläßt man diesen Prozeß dem Selbstlauf, riskiert man den Zusammenbruch des politischen Gefüges und stellt das demokratische System in Frage."

Die Frage, ob Deutschland bei diesem Hintergrund ein "Einwanderungsland" ist oder nicht, ist also bestenfalls noch theoretischer Natur. Zu klären ist allenfalls noch, aufgrund welcher Kriterien Einwanderer nach Deutschland kommen sollen. Genauso unergiebig ist die Frage nach den Schuldzuweisungen für die demographische Katastrophe der Deutschen. Die Klärung dieser Frage ändert nichts mehr. Meinhard Miegel hat die "individualistische Kultur" für die generative Selbstzerstörung der Deutschen verantwortlich gemacht. Das ist die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite betrifft diejenigen, die die Meinungsführerschaft in unserer "individualistischen Kultur" übernommen haben. Diesen "Meinungsführern" ist es gelungen, jeden Wertekonsens zu erodieren. Diese "Meinungsführer" stehen für die bewußte Zerstörung der Familie, die mit der Forderung nach der Homosexuellen-Ehe in ihr letztes Stadium eingetreten ist. Diese "Meinungsführer" stehen für die Zerstörung und Diffamierung jeglichen moralischen Empfindens, für die Erleichterung der Abtreibung sowieso für die Propagierung von Lebensweisen, die Kindern keinen Raum mehr lassen.

Lester Thurow hat die Konsequenzen dieser "Leitbilder" wie folgt gefaßt: "Der heutigen Gesellschaft gelingt es nicht mehr, Männer zu Vätern zu machen. Die Männer haben häufig nur ihr eigenes Wohlergehen im Auge. Es steht über dem der Familie." Bleibt zu ergänzen, daß ökonomisches Eigeninteresse heute längst keine Spezialität der Männer mehr ist. Jahrzehnte der "Frauenbefreiung" haben hier für einen klaren "Paradigmenwechsel" gesorgt.

Die überlebensnotwendige Korrektur dieser verhängnisvollen Leitbilder ist bis heute ausgegeblieben. Im Gegenteil, sie werden weiter zugespitzt und als Ausdruck sich "ausdifferenzierender Lebensweisen" gepriesen. Den Einflüsterungen der Propagandisten dieser Leitbilder nicht entschieden entgegengetreten zu sein, darin liegt wohl das eigentliche historische Versagen der Regierung Kohl. Die großmäulig angekündigte "geistig-moralische Wende" ist nicht nur ausgeblieben. Es wurde von seiten der Unionsparteien noch nicht einmal der Versuch gemacht, der allgegenwärtigen linksliberalen Kulturhegemonie wirklich Widerstand entgegenzusetzen.

Die jetzt vorliegenden Zahlen belegen die Folgen des ausgebliebenen Widerstandes: Das, was von den Deutschen am Ende diese Jahrhunderts noch übrig ist, wird in einem multiethnischen Siedlungsgebiet aufgegangen sein.


 
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