© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Gestörter Störenfried
Nietzsche: Die Weimarer Klassik-Stiftung stellt einen "Undurchschaubaren" aus
Richard Stoltz

Aus guten Gründen stellte Arno Plack, der ebenso hellsichtige wie couragierte Sozialanthropologe ("Wie oft wird Hitler noch besiegt?"), Friedrich Nietzsche in den Kontext "Lebenslüge in der Wissenschaft". In seinem nach wie vor lesenswerten "Ohne Lüge leben" zeigt Plack am Beispiel des Röckener Pastorensprößlings, daß "der Gedanke an das eigene Fortkommen sich auf den Fortgang der wissenschaftlichen Wahrheitserkenntnis" lähmend auswirken kann. Die subjektive Treue zur gesinnungshaften Perspektive wird die des ostentativ treuen Weibes, vor dessen Tugend uns der Fackel-Kraus warnt: "Sie ist heute dir, morgen einem anderen treu."

Nietzsche, Kraus und Plack wären, was die Ablehnung bundesdeutscher Lebenslügen anlangt, gewiß eines Sinnes gewesen. Nie zuvor gab es eine "Gesellschaft", deren mentales Terrain mit ähnlich zahlreichen Tabus politischer Psychologie absichtsvoll vermint worden wäre. Eines der vielen trizonesisch-volksdemokratischen Tabus hieß Nietzsche. Eine deutsche Lebenslüge namens DDR machte ihren genialischen Sachsen, der "mit dem Hammer" philosophieren wollte ("Ich bin ein Schicksal"), zumindest offiziell zur präfaschistischen Unperson. Nicht ganz so harsch ging die Lebenslüge BRD zu Werke: Suhrkamp-Sultan Habermas bemerkte beim schnauzbärtigen Demokratenfresser immerhin "bedeutende erkenntnistheoretische Schritte". Hundert Jahre nach dessen psychopathischem Verdämmern begibt man sich im Weimar der sogenannten "Wende" auf die Spuren des mittlerweile enttabuisierten Tabubrechers.

Das Jahr 2000, überreich an epitheta ornantia, ist nicht bloß ein Telekom-Jahr, ein Jahr von New Economy und Humangenetik – das hiesige Kulturmanagement, in der phantasielosen Spur runder Kalenderdaten, will, daß es auch zum Nietzsche-Jahr werde. Die Gegenwart ist süchtig nach bewegten Bildern, der Sehsinn dominiert, zusehends schwinden die übrigen Sinne. Der Weg führt nach außen, Rilke ("Alle Welt ist innen") scheint mega-out; ab sofort hat Welt kraß außen zu sein. Vordem wurde Nietzsche noch gediegen gelesen und philologisch ausgelegt – in der Schröder/Fischer/Schily-BRD, unter Kulturverweser Naumann wird Nietzsche geguckt. Indem man etwa den Expo-Besuch in Hannover mit einem solchen des beschaulichen Weimar verbindet.

Weimar ist mehr als Goethe/Schiller/Herder/Wieland. Weimar ist Nietzsche und war es schon, bevor es einer dürftigen Republik ihre differentia specifica zu geben hatte. Im Thüringischen öffnet, bis zum 31. Dezember des Jahres, das Nietzsche-Archiv in der "Villa Silberblick" seine Pforten. Besagte Villa und seine unsägliche leibliche Schwester hüteten den Moribunden bis zu seinem Ableben im Sommer des Jahres 1900, das freilich kaum jemand zu den denkwürdigen rechnen dürfte.

Wer sich die Reise sparen möchte, kaufe jenen ziegelsteindicken Schinken, der als Begleitbuch erschienen ist. Der Deutsche Taschenbuch Verlag bietet die spaßprall bebilderte Chronik von 855 großformatigen Seiten für erschwingliche 48 Mark feil.

Für keinen jener sieben-, achthundert Hansel, die hierzulande dem Nonkonformen ein nachhaltiges Interesse widmen, wurde diese Ausstellung auf die Beine gestellt. Insofern wäre es müßig, mit dem kulturkritischen Niveaukriterium, hantieren zu wollen: Hans Meiser, die Kiesbauer, einen Reich-Ranicki kritisiert man nicht. Derlei amüsiert einen oder nicht. Wie die vielen Exponate, die die Stiftung Weimarer Klassik zu einem längst konsumierbar gewordenen "Weltzertrümmerer" zusammengetragen hat.

Im Schiller-Museum macht besagte Stiftung, Erbin eines in hundert deutschen, allzu deutschen Jahren durchaus gefledderten Nachlasses, an die tausend Gegenstände zugänglich: Fotos, Autographen in Brief- und Manuskriptform, Gemälde, Erstdrucke, Plastiken, Kuriositäten, gar die Totenmaske. Gut die Hälfte aller Stücke gab der holländische Sammler Raymond Benders. Kein Nachkriegsdeutscher, gar in Karrierezusammenhängen, hätte undiffamiert einer so "gefährlichen" Sammelleidenschaft frönen dürfen. Die derzeit gültige Nietzsche-Edition mußte, was wunder, von leftistisch orientierten Italienern besorgt werden.

Das gesteigerte Interesse des Connaisseurs dürften die "Wahnsinnszettel" finden: Notate als letztverbliebene Weise, in der es dem sich selbst Entrissenen möglich war, seine intuitiven Einsichten und denkerischen Idiosynkrasien fortzuspinnen. In scharfem Kontrast zu jenem wenig auratisch anmutenden Gekritzel gewahrt der Besucher zwölf Metallknöpfe einer Rekrutenuniform, ebenso trocken dargeboten wie eine von Richard Wagner dem Kollegen dedizierte Porzellantasse. Der derzeit herrschenden Zeitmode gemäß tritt in erster Linie der "Mensch", der "Patient" vor uns: Kindheit im Pfarrhaus, Jugendjahre in Lützen, die Internatszeit in Schulpforta, die Studien in Bonn und Leipzig, der Hochschullehrer zu Basel, die Stationen eines bürgerlichen Normalo-Daseins.

Aufschlußreich die Dokumentation der sonderbaren Wanderjahre nach dem Lehrkanzelverzicht in bislang wenig zugänglichen Aufnahmen; kraß tritt das Vagierende, nachgerade Komische der Erscheinung zutage: deutscher Professor, Seher, weiser Lehrer, Schamane, Weltfremder, Sittenscharfrichter, Verächter, Flaneur, ein Isolierter, am Ende ein gestörter Störenfried.

Daß es sich hierbei um einen Fabrikanten hochbedeutender Texte in deutscher Sprache handelt, um einen zivilisatorischen Spiel- und Spaßverderber größten Stils, wird allerdings vielen verborgen bleiben. Das Dargebotene ist leider wenig geeignet, hier Aufklärung zu leisten. Aber warum auch? Halten wir es mit Nietzsche: "Warum auch unbedingt ’Wahrheit‘?"

Zu Beginn der Ausstellung fällt der Blick auf ein Foto des Turiner Bahnhofs, jener Stadt, in der der Wahn offen ausbrach und "Fritz" einen geprügelten Kutschengaul umhalst haben soll – "für alle und keinen". Sein Leben mag wenig widersprüchlich verlaufen sein; die Texte dieses inkonsequenten Positivisten aber sind schillernd wie allenfalls noch die der Bibel. Nichts, zu dem sich nicht ein Aphorismus fände, der freilich selbst durch einen anderen konterkarierbar ist. Nietzsche, unstet, polyglott, ewiger Junggeselle wie die meisten Großphilosophen, reiste gern und viel; eine Vielzahl alter Koffer, Landkarten, frankierter Reisegrüße suchen dies zu visualisieren: "Wann ist der Gotthardt-Tunnel fertig?" Da der hochspezialisierte Intellektuelle, der experimentelle Komponist, der Unzeitgemäße ausgeklammert werden, festigt sich bald der naive Eindruck, man habe es bei Nietzsche mit einer Spezies zu tun, wie sie nur das wilhelminische Reich typischerweise hatte hervorbringen können.

Dem Weimarer Nietzsche 2000 eignet nichts Mythisches: www.Zarathustra.de . Seiner eitlen Schwester Elisabeth durch den Tod entronnen, gerät der Bruder posthum in die Mühlen derzeitigen weiblichen Karrierestrebens. Frauen ohne Zahl schreiben heuer ihre Dissertationen über den zynischen Verächter ihres Geschlechts; eine Sabine Schirdewahn zeichnet verantwortlich für die blindlings wirkende Videoinstallation "Elisabeths Wille". Zumal Nietzsche, mit seinem alter ego Schopenhauer, darauf beharrte, "Hegel und die anderen Schleiermacher" verkennten, daß Wirklichkeit prinzipiell undurchschaubar sei. Um paradoxal zu dekretieren, Kugel, Spiegel und Rad seien die Strukturgesetze des Geistes. Nichts als Spiegelungen, Wiederholungen, spiralige Drehungen aufwärts-abwärts, Übermensch, Untermensch, Mittelmensch.

Beuys, auf seine Art ein BRD-Nietzsche, bekannte putzig: "Ich denke sowieso mit dem Knie." Das Gehirn fungiert, so Nietzsche, als großer Denkmuskel; man solle ihn tüchtig trainieren. Das zu tun verwehrt das Weimarer Ereignis weder Laien noch verbeamteten Berufsreflektoren.


 
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