© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Magreb statt Mitteleuropa
Frankreich: Die neue Annäherung zwischen der Pariser Regierung und der ehemaligen Kolonie Algerien
Charles Brant

Die lächelnden Gesichter und ge genseitigen Umarmungen ge hören der Vergangenheit an, und von dem kürzlichen Besuch des algerischen Präsidenten in Frankreich bleibt nur ein unbehagliches Gefühl.

Ein Staatsbesuch: seit siebzehn Jahren der erste eines algerischen Präsidenten in Frankreich. Ein "historisches" Ereignis also. Entlang der Champs-Elysées und auf den Dächern der Amtspaläste wehten Mitte des vergangenen Monats die grün-weißen Fahnen mit dem roten Halbmond. Jacques Chirac ist höchstpersönlich zugegen, als das Flugzeug eintrifft. Abdelaziz Bouteflika wird als Ehrengast mit allem empfangen, was Frankreich an Pomp und Pracht zu bieten hat. Er speist im Wohnsitz des Präsidenten der Französischen Republik, umarmt Innenminister Jean-Pierre Chevènement, trifft Vertreter der Wirtschft, besucht Verdun. Und als größte Ehrenbezeugung darf der algerische Präsident seine Ansprache in den historischen Mauern des Palais Bourbon halten. Die französischen Abgeordneten applaudieren im Stehen. Die Pressevertreter sind von dem Spektakel so ergriffen, daß sie die Vorhaltungen und giftigen Worte des Gastes völlig überhören und sich nur an eins erinnern: Abdelaziz Bouteflika spricht französisch. Wie rührend.

Die Kommentatoren begrüßen einen "Neubeginn" in den französisch-algerischen Beziehungen. Ist ihnen recht zu geben? Das wäre ein bißchen voreilig. Richtig ist zwar, daß der algerische Präsident Paris zufrieden verließ. Immerhin hatte er die Zusicherung erreicht, daß die französischen Behörden sich um eine "geschmeidigere" Bearbeitung algerischer Visumsgesuche bemühen werden (es handelt sich hierbei allein in diesem Jahr bislang um 200.000 Anträge). Desgleichen hatte er der französischen Regierung das Versprechen abgerungen, Algerien in der Frage des Schuldenerlasses über Reinvestitionen entgegenzukommen.

Bei aufmerksameren Beobachtern aber hinterließ dieser Besuch ein unbehagliches Gefühl: Zum einen ist die Großzügigkeit Frankreichs selten mit gleicher Münze erwidert worden. 1962 entließ de Gaulle Algerien mit einer Aussteuer in Milliardenhöhe und einem Ölsegen in die Unabhängigkeit. In der Folgezeit hat Frankreich einen kontinuierlichen Strom algerischer Einwanderer bei sich aufgenommen. Zum zweiten kam Abdelaziz Bouteflika nicht bloß nach Frankreich, um um Geld zu betteln und den Franzosen Moralpredigten zu halten. Er kam auch, um sein internationales Image als Retter Algeriens nachzubessern. Hier drückt der Schuh ebenfalls.

Das Willkommen, das ihm zuteil wurde, zeugt von Frankreichs Bereitschaft, sich mit der algerischen Scheindemokratie abzufinden. Zwar herrscht in Algerien nicht mehr ein pures Ein-Partei-System. Nichtsdestotrotz spielt die politisch-militärische Kaste, die aus der nationalen Befreiungsfront FLN hervorging und seit Beginn der Unabhängigkeit an der Macht ist, auch weiterhin die dominante Rolle. Diese Kaste hat Algerien in die wirtschaftliche Katastrophe geführt und tief in die Korruption gestürzt. Sie hat sich noch keineswegs von den Dogmen des Sozialismus sowjetischer Prägung verabschiedet, die sie nach der Unabhängigkeit verkündete. Auf die seit Jahren angekündigten Privatisierungen wartet man heute noch.

Dieselbe Kaste ist für die Islamisierung und den Bürgerkrieg verantwortlich. Algerien hört nicht auf, sich selbst zu zerfleischen; Algerier töten weiterhin Algerier. Seit am 13. Januar die Frist zur Waffenübergabe auslief, hat das Land über tausend weitere Tote betrauern dürfen. Gleichzeitig machten sich die offiziellen Presseorgane auf die Suche nach einem Sündenbock, den sie in der französischen Kolonialherrschaft entdeckten. Abdelaziz Bouteflika ließ es sich nicht nehmen, dieses Thema aufzuwerfen, das derzeit den politischen Diskurs in Algerien beherrscht. Algerien hat mit Frankreich noch längst nicht Frieden geschlossen. Algerien hat noch nicht einmal mit sich selbst Frieden geschlossen. Das befriedete Algerien ist ein Trugbild, das sich die Machthaber in Frankreich und Europa zusammengesponnen haben.

Ein weiteres Zeichen, daß hier etwas im argen liegt, ist die Realität des sogenannten "französisch-algerischen Raumes". Es handelt sich hierbei weniger um historische Bande – diese können einer algerischen Bevölkerung, in der die Unter-30-jährigen dominieren, nur wenig bedeuten – als vielmehr um die geradezu magische Anziehungskraft, die Frankreich auf viele Algerier ausübt. Sie betrachten Frankreich als eine Art Eldorado, das die Erlösung aus der Arbeitslosigkeit und aus dem materiellen und moralischen Elend verspricht. Diese Anziehungskraft ist das brenzligste Problem der Zuwanderung, die für Frankreich eine immense Belastung bedeutet und zugleich offenkundig macht, daß der Mythos von der algerischen Unabhängigkeit gescheitert ist. Daher rührt die Gehässigkeit der algerischen Amtsträger gegenüber Frankreich und ihr Bemühen, die Spannungen zwischen den beiden Ländern aufrechtzuerhalten. Der französisch-algerische "Neubeginn" ist ein boshafter Scherz – es sei denn, man sieht die Beziehung unter dem Aspekt des Sadomasochismus.

Kennzeichnend für einen solchen Ansatz ist eine Polemik über die Folter, die in Le Monde abgedruckt wurde. Indem sie den Augenzeugenbericht einer Algerierin publik machte, die in der FLN kämpfte und Anschuldigungen gegen die Generäle Jacques Massu und Marcel Bigeard erhebt, konnte sich die algerische Regierung des Profits sicher sein, der auch nach vierzig Jahren noch aus der schmerzlichen "Erinnerung" an den algerischen Unabhängigkeitskrieg zu schlagen ist. Diese Bereitschaft zur Schuldzuweisung führt dazu, daß das Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich gespannt bleibt. Sie ignoriert die von der FLN begangenen Morde, die vor der Unabhängigkeit unterschiedslos in allen Bevölkerungsgruppen zuschlug.

Schließlich muß man sich fragen, aus welchen ideologischen Gründen die französische Regierung sich so überaus zuvorkommend verhält. Dieses Zuvorkommen macht sich keineswegs nur in den unausgeglichenen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien bemerkbar, sondern auch in der neuartigen und gezwungenen Art und Weise, wie der "französisch-algerische Raum" hochgehalten wird. Man mag sich fragen, ob Algerien in den Augen der französischen Regierung trotz aller Probleme nicht doch eine Trumpfkarte darstellt, einen "Notausgang" sozusagen. Es ist immerhin kein Zufall, daß man sich momentan besonders um die Entwicklung politischer Beziehungen zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers bemüht, nicht zuletzt durch einen Mittelmeerstaaten-Gipfel, an dem Frankreich, Italien, Spanien und Algerien teilnehmen sollen.

Es scheint, als wolle Frankreich mit dieser Wendung nach Süden seine alten Träume wieder auferleben lassen – so als wolle man sich einen Fluchtweg offenhalten, um notfalls aus dem europäischen Vereinigungsprozeß aussteigen zu können, der Frankreich vorschreibt, seine Zukunft mit der des Kontinents abzustimmen.


 
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