© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Wir von der Ich AG
Das Buch zur geistigen Verfassung der bundesdeutschen Spaßgesellschaft: Lutz Niethammers großtrizonesische Sozialphilosophien
Johann Sillentz

Die unabsehbare Bedeutung des Buches "Kollektive Identität" liegt in seiner völligen Bedeutungslosigkeit. Kalauer werden hier zu Visionen. Es ist der neueste Nomos, der hier zwischen den Zeilen hervorschielt.

Unbedeutend ist die These des Buches, die Suche nach kollektiver Identität sei mit der Abwertung "ganzer anderer Kollektive dialektisch verbunden". Dahinter steht nicht mehr als die Überheblichkeit ganzer Scharen von fellow travellers, die aus ihrer miles&more – Lebensweise Paradiesvorstellungen halluzinieren. Bei Niethammer gerinnt der Begriff der kollektiven Identität zu einer Horrorvision: bei der Lektüre tauchen vor den Augen des Lesers Horden von Schwarzuniformierten auf, die alles auffressen wollen, was nicht mit ihnen "identisch" ist. Gewalttätig ist aber vor allem der Verfasser selbst, wenn er etwa mit dem ganz großen Knüppel gegen "den" Staat als Drahtzieher kollektiver Identität vorgeht: "Die Idealbedingungen" staatlicher Identitätsbestimmungen waren – der Leser ahnt es schon – "im KZ erreicht". Von Jean Bodin zu Rudolf Höss – solche Brücken werden wohl nur von deutschen Hirnen gebaut.

Aber unüberwindliche Aneignungsprobleme banalster Realitäten kennzeichnen nun einmal die hiesigen Geisteswissenschaften. "Ein geschichtliches Wir ist nur, sofern es vollzogen wird, nämlich als Widerstand gegen die Fremde. Die Fremde ermöglicht erst Geschichtlichkeit. Denn ein geschichtliches Wir entspringt, indem es sich an der Fremde begrenzt." Bei soviel Lob der Grenze, hier zum Beispiel von dem mit der Geistesgeschichte der Apokalypse wohlvertrauten Erlanger Philosophen Wilhelm Kamlah (1905–1976), bliebe Niethammer vermutlich nur der Ruf nach der Polizei übrig. Und wenn Panajotis Kondylis schreibt: "Identität bildet keine psychologische Variable, sondern eine anthropologische Konstante, also ein ubiquitäres menschliches Attribut mit direkten sozialontologischen Implikationen", kann wohl nur noch auf die ‘Gentechnologie‘ gehofft werden.

Niethammers Buch ist in jeder Hinsicht mißlungen. Hunderte von Seiten hätte er durch ein Lektorat sparen können, welches das Geschwafel, wie man es von fortgeschrittenen Geselligkeitsabenden im Essener "Kulturwissenschaftlichen Institut" kennt, rigoros gestrichen hätte. Weiter wäre der Umfang gestrafft worden, wenn jedes "ich" (manchmal hat es der Leser mit bis zu zwanzig pro Seite zu tun, es taucht sogar ein "mir an sich" auf …) gelöscht worden wäre. Vom pelzigen Geschmack der Spießersprache ("Mega-Mittelalter", "Mega-Wiederholung", "mega-out") ganz zu schweigen. Auch methodisch wollte nichts gelingen. Ein bißchen Ideologiekritik, eine Prise Philologie und eine oberflächlich sehr extravagante Konzeption, die sich aber schnell als flüchtig konstruierter Irrgarten erweist: In umfangreichen Kapiteln werden Carl Schmitt, Georg Lukács, C.G.Jung, Erik H. Erikson, Maurice Halbwachs und Aldous Huxley als "Stichwortgeber" kollektiver Identität verhandelt. Zehn andere Autoren hätten mit demselben Recht oder Unrecht fünfzig andere Namen behandeln können. Ein paar Rosinen, zum Beispiel der Hinweis auf den ICI-Chef Alfred Mond, oder einen übersehenen Bonner Schüler Carl Schmitts, den späteren führenden SED-Verfassungsrechtler Alfons Steiniger – viel mehr wird dem Leser wirklich nicht geboten.

Wissenschaftlich avantgardistisch wird es beim Thema der kollektiven Identität "der an sich relativ kleinen jüdischen Gemeinschaft". Zwar stellt der in Jena Zeitgeschichte lehrende Verfasser fest, fast zwei Drittel der Eintragungen im Schlagwortkatalog der New York Public Library seien "allen möglichen Aspekten jüdischer Identität in Israel, Europa und Amerika gewidmet oder stammen von Autoren jüdischer Herkunft". Doch wie auf Knopfdruck erlischt hier Niethammers Forscherinteresse: Es sei ein "Gebot von Anstand und Klugheit, daß Leute wie ich sich mit öffentlicher Kritik und Ratschlägen gegenüber der Kultur und Politik mitlebender Juden zurückhalten und ihnen nicht unsere Wahrnehmungsweisen aufdrängen". Dem unvoreingenommenen Leser drängt sich an dieser Stelle eine Bemerkung Carl Schmitts auf: "Elite sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt. Diese Definition hat den Vorteil, daß sie gleichzeitig auch die Soziologie definiert."

Hier deutet sich schon die erwähnte unabsehbare Bedeutung dieses völlig unbedeutenden Buches von Niethammer (der Waschzettel zählt zu dessen "wichtigsten" Veröffentlichungen Titel wie "Entnazifizierung in Bayern", "Arbeiterinitiative 1945" und die Herausgabe einer Festschrift für den Bochumer Zeithistoriker Hans Mommsen) an: Niethammer spricht den zukünftigen Nomos des Territoriums BRD mit einer Klarsichtigkeit an, die der sogenannten "Politik" noch nicht über die Lippen will. Die Zukunft besteht im Mückenflug eines Volkes "aus Türken und Bayern, Arbeiterinnen und Pastoren, Sachsen und Juden, Aktienspekulanten und Stasi-Spitzeln, Medienberatern und Skins, I-Dötzchen und Altenpflegerinnen und und und – das sind erst mal ‘wir‘. Besser geht´s nicht."

Was Niethammer mit emphatischem Kitsch besingt, erfüllt den soziologischen Tatbestand der colluvies gentium, der Volksentstehung aus Asylbildung. Unbewußt erreicht Niethammer trotz seines Kitsches "Regenpfeifer"-Qualität im Sinne von Hans Joachim Schoeps: es gilt, alle "patriotischen" Phantomschmerzen zu überwinden und seine Umgebung mit dem ethnologischen Blick wahrzunehmen.

Mitte der achtziger Jahre meinte Bernard Willms, eine der faszinierendsten Aufgaben zukünftiger psychosozialer Geschichtsschreibung wäre die Untersuchung der Mechanismen, die zur Internalisierung des Instrumentariums der "Umerziehung" durch die Deutschen selbst geführt haben, Niethammers 679 Seiten würden für diese Aufgabe einen klassischen Stoff liefern.

Nicht zuletzt, weil in Jena dank Lutz Niethammer ein solcher Geist weht, kann man verstehen, weshalb ein "Erziehungswissenschaftler" wie Micha Brumlik zum 50. Geburtstag der BRD diese glücklichen Worte finden konnte: "Wer fremdbestimmt lebt und Umständen oder Mächten ausgesetzt ist, die er nicht verändern kann, unterliegt der Herrschaft und ist – Untertan! ... das bundesdeutsche Gemeinwesen erweist sich als watteweiches Gebilde, das nur noch ‘Standort‘ sein will. Man gratuliert."

 

Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Rowohlt, Reinbek 2000. 679 Seiten, 32,90 Mark.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen