© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Der Einbruch des Gefährlichen
Claudia Gerhards: Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins "Die andere Seite" und Ernst Jüngers Frühwerk
Tobias Wimbauer

Der Graphiker und Schriftsteller Alfred Kubin (1877–1959) gehörte zu den wenigen zeitgenössischen Künstlern, die Ernst Jünger zeitlebens hoch schätzte. Ein expressionistisches Gedicht Jüngers von 1921 zu dem Kubin-Bild "Der Mensch" hat sich erhalten, andere Gedichte Jüngers aus dieser Zeit fielen einem Autodafé zum Opfer. Sichtbarstes Zeichen von Kubins Verbundenheit mit Jüngers Werk sind die Illustrationen zum Reisebericht aus Norwegen ("Myrdun", 1948).

Kubins düsterem Roman "Die andere Seite" (1909) widmete Jünger 1929 eine Rezension in Ernst Niekischs Widerstand und 1931 den Aufsatz "Alfred Kubins Werk". Ausgehend von diesem Aufsatz entspann sich ein Briefwechsel zwischen beiden, der bis 1952 währte und – leider unvollständig – 1975 veröffentlicht wurde. Nicht nur in den Tagebüchern Jüngers begegnen uns Kubin und dessen Geschöpf Patera, der Herrscher der Traumstadt Perle aus "Die andere Seite", sehr häufig.

Claudia Gerhards (die sich bereits 1994 in der Etappe mit Jüngers Frühwerk auseinandersetzte: "Militanz und Moderne") hat nun ihre 1998 in Köln vorgelegte Dissertation zu Kubin und Jünger veröffentlicht. Ein Band, obgleich schmal, der interessante Schritte vollzieht. Da die Beschäftigung mit Kubins Werk sich bislang auf sein graphisches Schaffen beschränkte, betritt Gerhards mit ihrer vornehmlich literaturwissenschaftlichen Untersuchung Neuland.

Zeichnete sich die Moderne durch Rationalisierung und Fragmentarisierung der Erfahrung, die "Entzauberung der Welt" (Max Weber) aus, bedingt durch das Vordringen der als "Einbruch des Gefährlichen" erfahrenen Technik, so war die vormoderne Welt den "Überraschungen des Schicksals" näher.

Wie läßt sich die Moderne nun mit der Apokalypse-Vorstellung vereinbaren? Wurde die Apokalypse zunächst als Weltvollendung, als Heilsversprechen Gottes verstanden, so wich diese Auffassung der Beschränkung auf den Untergang und die Ersetzung Gottes durch Volk, Kultur oder Rasse, was Gerhards die "klassisch-moderne Apokalypse" nennt, welche davon ausgeht, daß die "alte defiziente Welt" zerstört werden müsse, "damit eine neue, vollkommene errichtet werden kann". Der Endsieg des Göttlichen über den der Technik unterworfenen Menschen ist ja nicht nur eine Prophezeiung des Schreckens, der Katastrophe, sondern zugleich Verkündung des Neuanfangs, der Errichtung des "Neuen Jerusalem".

War zum Beispiel im Futurismus die Technik noch Teil der "Erlösung", radikalisierte Jünger das "Programm". Bei Jünger ist das postapokalyptische Neue Jerusalem eine durchrationalisierte Zo- ne. Sein "Arbeiter" wird als "Überbietung der Entzauberungsthese" (Norbert Bolz) geschildert, der das "stählerne Gehäuse der entzauberten Welt" zu sprengen sucht – Überwindung also durch Herrschaft über die Ratio-Welt.

Gerhards führt aus, wie sich Jünger im Rahmen einer "kalten Apokalypse" bewegt, während für Kubin das Apokalyptische selbst Modell ist. Gemeinsam ist beiden das "Leiden an der Moderne".

In Kubins "Anderer Seite" folgt dem Untergang keine "Vision der Fülle", wie es in den genannten Apokalypse-Modellen der Fall war, denn es schwindet die Fülle (aus Jüngers Sicht: Defizienz) des Traumreiches des Vergangenen, und es geht aus sich selbst heraus unter. Kubins Traumstadt Perle ist der technischen Moderne abgewandt, ein a-technisches Gegenreich zur Apparatewelt. Durch die okkultistisch verstandenen elektromagnetischen Strahlungen, ein Herrschaftsinstrument Pateras, hält die technische Moderne, wie Gerhards aufzeigt, gleichwohl Einzug in die Vorzeitigkeit der Traumstadt.

In Jüngers frühen Schriften geht der Mensch in der Moderne auf. Seine Herrschaft über die Moderne und die Technik soll zu ihrer Überwindung führen. Jünger geht also über das Gegenwärtige hinaus. Er technisiert das Neue Jerusalem, es ist ein Reich der Ordnung, der Neue Mensch ist der Arbeiter. Bei Kubin dagegen folgt dem Untergang das Irrenhaus.

Am Beispiel der raschen Adaption des Telefons, neben Film und Grammophon eines der "neuen Medien" zu Anfang des 20. Jahrhunderts, zeigt Gerhards den Konnex zwischen Technik und Jüngers "kalten persona" auf, dem an die technisierte Lebenswelt optimal angepaßten Typus des "Arbeiters". Das Kapitel über "Die Kälte des Telefons", das den Kontext und die Bedeutung der Technik- und Militärgeschichte (der Erste Weltkrieg: ein "Fernsprechkrieg") und deren literarische Rezeption facettenreich darstellt, gehört zu den stärksten und originellsten Abschnitten des ganzen Buches. So wie Gerhards hier neue Zugänge zu Jüngers Frühwerk öffnet, gelingt ihr mit der Interpretation von Meinhard Silds Kubin-Essay, der 1939 in den NS-Monatsheften erschien, ein vexierspielartiges Bravourstück, das die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Kubins regressiver und Jüngers forcierender Antwort auf die Moderne ebenso hell aufscheinen läßt wie die vage nationalsozialistische Hoffnung auf eine "Heroisierung" der Moderne nach dem "Sieg des Soldaten über den Bürger". Der aus NS-Sicht als "entartet" und "dekadent" geltende Kubin wird von dem Jüngerianer und Nationalsozialisten Sild plötzlich vereinnahmt und in die gemeinsame Front im Kampf gegen die bürgerlich-liberale Welt des 19. Jahrhunderts eingereiht. Hier fällt ein Licht auf jene Ambivalenzen der Kultur und Lebenswirklichkeit nach 1933, die der Regensburger Germanist Hans Dieter Schäfer 1981 unter dem treffenden Titel "Das gespaltene Bewußtsein" erfaßte.

 

Claudia Gerhards: Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins "Die andere Seite" und Ernst Jüngers Frühwerk. Königshausen&Neumann, Würzburg 1999, 157 Seiten, 48 Mark


 
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