© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Verletzter Stolz der kleinen Völker
von Carl Gustaf Ströhm

Wenn führende Politiker der mittel- und osteuropäischen "Reformstaaten" (der Begriff ist an sich unsinnig ,hat sich aber im Sprachgebrauch eingebürgert ) über EU und Nato und den (hoffentlich)bevorstehenden Beitritt ihrer Länder zu den "euro-atlantischen Integrationen" sprechen, gleichen sie manchmal Kindern im nächtlichen Wald, die sich durch lautes Singen selber Mut einflößen wollen. Zumindest im Unterbewußtsein schwant es den Pro- Europa- und Pro-Nato-Aktivisten in den ehemaligen Oststaaten, daß sich die Dinge wesentlich härter im Raume stoßen, als man es zu Beginn der neunziger Jahre – kurz nach dem Fall der Berliner Mauer – angenommen hatte.

Die meisten Menschen in den Ostseestaaten – nicht nur die Politiker – hatten damals ein idealistisches, ja sogar idealisiertes Bild vom "goldenen Westen" mit seinen Freiheiten, seinem Wohlstand und seiner (scheinbaren) Bereitschaft, die Tore für die armen Brüder und Schwestern im Osten weit zu öffnen. Heute sind die ehemaligen Osteuropäer nicht nur mit harten, ökonomischen Realitäten konfrontiert - ausgehend von der Tatsache, daß ihnen vom Westen buchstäblich nichts geschenkt wird. Sie müssen sich auch damit vertraut machen, daß sowohl Nato und EU als Institution wie auch die von ihnen vertretenen einzelnen Mitgliedsländer nötigenfalls eine beinharte Interessen- und Machtpolitik betreiben, wobei für die Interessen und Probleme der armen mittel - und osteuropäischen Kleinstaaten so gut wie kein Verständnis besteht, allenfalls geheuchelte Anteilnahme und unverbindliches Schulterklopfen.

Ein krasses Beispiel dafür wurde jüngst den baltischen Staaten vorexerziert, denen Bundeskanzler Schröder einen Marathon-Blitzbesuch abstattete, nachdem es sein Vorgänger Helmut Kohl in elf Jahren nicht für der Mühe wert gehalten hatte, sich dort auch nur einmal als Staatsgast sehen zu lassen. Der Eindruck, den der deutsche Kanzler-Besuch im Baltikum hinterließ, war trotz äußerer Freundlichkeit zwiespältig, weil auch die politische Präsentation des Berliner Regierungschefs im Grunde zwiespältig war. Die Hoffnung der Esten zum Beispiel, Schröder werde ihren Wunsch nach Nato-Mitgliedschaft aktiv unterstützen, erfüllte sich nicht. Der deutsche Kanzler wand sich wie ein Aal und legte sich nicht fest – nur in der EU-Frage, die ohnedies für die Esten so gut wie positiv entschieden ist (bis auf den kniffligen Termin- und Zeitplan) rannte Schröder ohnedies bereits offene Türen ein. Aber gleichzeitig bezeichnete das zweitwichtigste Mitglied der deutschen Delegation, die schleswig-holsteinische SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis, den estnischen Präsidenten Lennart Meri wenig charmant als "Erpresser". Und kaum war der joviale Kanzler abgereist, erschien in der erstnischen Hauptstadt Tallinn/Reval der deutsche Staatssekretär im Verteidigunsministerium, Walter Kolbow, und erklärte,daß eine Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato von einer vorherigen Zustimmung Rußlands abhängig sei. Damit bestätigte Kolbow, was von offizieller amerikanischer Seite bisher immer sehr energisch bestritten wurde: daß nämlich Rußland sehr wohl ein Vetorecht gegenüber der Nato habe. Eine kältere Dusche hätte man Esten, Letten und Litauern nach dem Kanzlerbesuch gar nicht verpassen können.War sie beabsichtigt, indem man den Staatssekretär Kolbow jene Wahrheit aussprechen ließ, die dem Kanzler nicht über die Lippen kommen wollte?

 

Slowenien kann seine Unabhängigkeit wieder verlieren oder verspielen, wenn die politische Elite des Landes nicht achtsam und wachsam bleibt. Staaten können entstehen aber auch wieder vergehen.

 

Das baltische Beispiel ist nur eines unter mehreren- freilich ein besonders krasses. Ein baltischer Politiker der aus begreiflichen Gründen nicht namentlich genannt werden wollte sagte mir diese Tage: "Unsere Lage stellt sich so dar: die Russen sind unsere Feinde und behandeln uns wie Feinde. Die skandinavischen Regierungen lassen es uns gegenüber bei freundlichen Worten bewenden. Den Franzosen und Briten sind wir im Grunde gleichgültig, und die Amerikaner sind weit weg.Wer von ihnen würde einen Finger rühren,wenn es eines Tages an unserer Ostgrenze zu ernsthaften Sicherheitsproblemen kommen sollte?"

Aber sogar in jenen drei "Reformstaaten", die sicherheitspolitisch ein wenig besser dran sind, weil sie inzwischen in die Nato aufgenommen wurden (wenn auch nicht in die EU), herrschen Skepsis und Besorgnis. Die Polen fürchten, daß eine EU-Außengrenze eines Tages eine Mauer zwischen ihnen und der benachbarten Ukraine führen muß - mit einerVerstärkung russischer Einflüsse in Kiew,was sich wiederum negativ auf die polnische Sicherheitslage auswirken müßte. Überdies ist man in Warschau ziemlich enttäuscht über den "Erbfreund" Frankreich, der in der Frage nach Osterweiterung nichts getan hat, um den Polen den Zugang nach Brüssel zu erleichtern.

Auch bei jenen ost- und mitteleuropäischen Staaten,die traditionell nach Frankreich orientiert waren, hat die Perspektive eines deutsch-französischen oder französisch-deutschen Kondominiums oder "Direktoriums" über das restliche Europa größtes Unbehagen bereitet.Der tschechische Parlamentspräsident und ehemalige Regierungschef Vaclaf Klaus erklärte sogar , eine solche Doppelherrschaft der Franzosen und Deutschen über Europa müsse zum Zerfall der EU führen. Der Versuch der beiden "Großen", das Einstimmigkeitsprinzip innerhalb der EU zugunsten von Mehrheitsbeschlüssen abzuschaffen, wird von manchen Politikern des postkommunistischen Raums als eine neue Form der "Breschnew-Doktrin" bezeichnet,die vor allem die kleineren und ärmeren Staaten mitleidslos der "Abstimmungs-Dampfwalze" unterwerfe, die dann über nationale oder regionale Interessen mitleidslos hinwegfahren könne.

Hier spielt auch der "Fall Österreich" mit hinein. Selbst wenn sie sich in vielen Fällen zurückhalten- nur der ungarische Ministerpräsident Orban wagte ein deutliches und kritisches Wort an die Adresse der Sanktionsbefürworter- ist das Unbehagen allerorts spürbar. Man will nicht der nächste sein,der auf diese Weise "zum Handkuß" kommt.

Interessant ist das Beispiel Sloweniens, das mit einem Bruttoinlandsprodukt von 72 Prozent des EU-Durchschnitts besonders nahe an die Aufnahmekriterien für Brüssel herankommt. Gerade in dieser kleinen Republik werden in jüngster Zeit euroskeptische Stimmen vernehmbar. Am 3. Juni veröffentlichte die führende slowenische TageszeitungDelo einen Kommentar, in dem es explizit hieß, Slowenien könne seine mühsam errungene nationale Unabhängigkeit wieder verlieren oder verspielen, wenn die politische Elite des Landes nicht achtsam und wachsam bleibe. Staatenkönnten entstehen, aber auch wieder vergehen, meinte der slowenische Kommentator. Er fügte allerdings hinzu, auch die EU sei nicht auf ewige Zeiten geschaffen. Auch sie könne eines Tages verschwinden. Vor allem aber sei noch nicht hundertprozentig ausgemacht, daß nicht auch der slowenische Staat seine Unabhängigkeit wieder verlieren könne.

Einige Tage später erschien in der gleichen slowenischen Zeitung eine umfangreiche Analyse der Situation der kleinen slawischen Alpenrepublik südlich der Karawanken, in der es u.a. hieß, vom Standpunkt des "durchschnittlichen Slowenen" nehme das Spiel, das die Brüsseler Eurobürokraten mit Slowenien spielten, immer mehr die Form "eines Verlustes der Souveränität und der nationalen Demütigung an". Slowenien, so heißt es weiter in führenden Blatt aus Laibach (Ljubljana) habe der EU bereits "zu große" Konzessionen gemacht. Das Land habe "die Schwelle des Nationalstolzes und der Integrität" hinter sich gelassen- und eine Rückkehr auf diese Position sei nur schwer möglich.Wörtlich heißt es: "Mehr oder weniger bewußt hat es (Slowenien) sich von den traditionellen Symbolen der

Souveränität und Nationalität losgesagt- von der wirklichen Entscheidungsbefugnis über einige Fragen,die es den europäischen Bundesbehörden überlassen hat, bis hin zu den Symbolen der Souveränität,die im Bewußtsein der slowenischen Bürger verankert sind …"

Die EU verlange von Slowenien, das noch nicht Mitglied sei, Maßnahmen, die mit finanziellen Verlusten verbunden seien- garantiere dem Lande aber keineswegs ein fixes Datum der Aufnahme in diese EU.

Und weiter heißt es: "Angesichts der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU,wo es nach der Vorstellung des deutschen Außenministers Joschka Fischer mehrere konzentrische Kreise geben soll, können wir (Slowenien) leicht in einem marginalen äußeren Kreis landeren – ohne Subventionen und ohne die Rechte der bevorzugten europäischen Nationen." Brüssel übernehme alles ,was irgendein EU-Mitgliedsland aus Slowenien "herauspressen" wolle. Wenn Slowenien in die EU wolle, müsse das Land "alles akzeptieren". Dieses Spiel werde ohne Ende fortgesetzt. Die jetzigen fünfzehn Mitgliedsstaaten würden sich nicht so bald über eine Reform der EU einigen- jedenfalls nicht bis zum Jahre 2003, dem ursprünglich ins Auge gefaßten Aufnahmedatum für die neuen Kandidaten.

"Die EU kann zufrieden sein", ist in dem Delo-Artikel zu lesen, "denn sie hat von Slowenien bereits alles erhalten ohne es in seine Reihe aufzunehmen und ohne nur einen einzigen Euro an Subventionen aufwenden zu müssen". Die EU habe den "völlig geöffneten slowenischen Markt" für ihre Produkte und für ihr Kapital erhalten. Sie habe für die privaten EU-Bürger die Möglichkeit erhalten, Grund und Boden in Slowenien zu erwerben. Unternehmer aus der EU hätten das Recht, in allen Wirtschaftszweigen Sloweniens ihr Geld anzulegen. Schließlich habe Brüssel auch die politische "Unterwerfung" der slowenischen Regierung unter Brüssel erhalten, denn "die slowenische Regierung tue alles, was Brüssel von ihr verlange".

Delo kommt zu dem Schluß, daß die EU Slowenien als Mitglied nicht einmal mehr benötige,denn in diesem Fall müsse Brüssel ja auch gewisse Verpflichtungen übernehmen. " Viel einfacher ist es, einen so gehorsamen Staat zu haben, mit dem man machen kann, was man will, und der alles akzeptieren wird, was man von ihm verlangt."Selbst wenn die Slowenen in einem Referendum gegen die EU-Mitgliedschaft stimmen sollten, würde auch das nichts ändern - denn Slowenien sei bereits mit seinen Kapitalverpflechtungen politisch und im Blick auf Handel sowie Verwaltung Teil der EU. Die daraus resultierenden Vorteile habe Slowenien bereits konsumiert, und für sie bezahlt. Die finanzielle Bilanz der Annahme der EU-Forderungen weise für Slowenien einen Verlust, für die EU aber einen großen Gewinn aus.

 

Die Europäische Union muß sehr aufpassen, mit den kleinen aber zähen Nationen Mittel- und Ost-europas nicht Schiffbruch zu er-leiden. Nicht immer sitzt der scheinbar Stärkere am längeren Hebel.

 

Diese "Abrechnung" der führenden slowenischen Zeitungen mit der EU ist insofern paradigmatisch, als sie in gewisser Weise auf fast alle anderen Beitrittskandidaten zutrifft – nur hat bisher niemand in Ostmitteleuropa die Dinge mit solcher Deutlichkeit ausgesprochen wie der Autor des Delo-Artikels – wobei zu bemerken ist,daß weder Zeitung noch der slowenische Verfasser, Marko Kos, irgendwie "rechts" stehen. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine im Grunde "linke" Kritik der EU- eine Kritik, die sich aber meilenweit vom üblichen sozialdemokratischen EU-Positivismus unterscheidet.

Um so bemerkenswerter ist es, daß sich der slowenische Artikel kritisch mit der EU-Forderung auseinandersetzt,die traditionelle slowenische Land- und Forstwirtschaft im Sinne Brüssels "gleichzuschalten". Slowenien, beklagt sich der Autor, habe auf den Schutz seiner einzigartigen Tiere und Argrarprodukte (Lipizzaner-Pferde und Bienenzucht) verzichten müssen. Das Land habe das einzige opfern müssen, was es besitze: das Wissen und die Agilität seiner Menschen. Jetzt aber, so warnt der Artikel, stehe als nächste Brüsseler Forderung die Abschaffung der slowenischen Sprache im Bereich von Wirtschaft und Produktion auf der Tagesordnung. Die EU verlangt, daß die Vorschrift, wonach in Slowenien tätige Firmen sich im Geschäftsverkehr der slowenischen Sprache bedienen müssen, zu fallen habe. Dies aber, so warnte Delo ,werde zum"Bruchpunkt führen.

"Der durchschnittliche Slowene spricht nur Slowenisch," heißt es weiter. "Die Einführung anderer Sprachen (…) bedeutet eine Bedrohung seiner Position als gleichberechtigter Staatsbürger." Schon jetzt könne man eine "Verfremdung" der großen Städte des Landes feststellen, in denen es zu 80 Prozent fremde Aufschriften und Reklamen gebe." An der Hauptpost von Ljubljana sehen wir Aufschriften und Lichtreklamen auf Englisch und Deutsch und fast keine einzige auf Slowenisch . . ."

"Ist die Frage der Sprache am Arbeitsplatz in den Betrieben und Verpflichtung des Direktors, diese Sprache zu beherrschen,wirklich so wichtig ,daß sich darauf die Unabhängigkeit des Staates und seine Identität gründen?" fragt Delo und gibt dann eine Antwort, die gleichfalls nicht nur auf Slowenien, sondern auf die anderen kleinen Nationen zwischen Ostsee und Adria zutrifft. Zwar stimme es, daß andere Staaten das akzeptiert hätten- und die Welt sei nicht untergegangen. Aber- es komme auf die Größe (oder Kleinheit)der Staaten an. Andere Staaten seien so groß, daß einige hundert Fälle, in denen man auf den Gebrauch der Muttersprache verzichten müsse, nichts ausmachten. Slowenien aber sei (nach Luxemburg) der zweitkleinste Staat Europas. Hier bedeute der Übergang der Hälfte der Betriebe unter ausländische Verwaltung bereits, daß die Wirtschaft des Landes "in fremder Sprache sprechen wird".

Das slowenische Volk habe eine "lange Geschichte einer ununterbrochenen Kette von nationalen Demütigungen und Verletzungen seiner Souveränität hinter sich", erklärt der Delo-Artikel. Die slowenische Regierung, so heißt es warnend, dürfe nicht darauf rechnen, daß die Kette der Tiefschläge, die man seit Beginn der Verhandlungen mit der EU einstecken mußte, die die slowenische Gesellschaft derart geimpft hätten, daß sie auch noch schwerere Schläge ertragen könne. Der Aufsatz schließt mit der Aufforderung: "Wir (Slowenen) müssen so stolz sein, wie wir es nur ein einziges Mal waren: damals, als wir gegen den Rat des gesamten Westens unsere Unabhängigkeit verwirklichten." In anderen"Kandidatenstaaten" kochen – oft unter der halbsichtbaren Oberfläche– ähnliche Empfindungen hoch. Die EU muß sehr aufpassen, mit den kleinen aber zähen Nationen Mittel- und Osteuropa nicht Schiffbruch zu erleiden. Nicht immer sitzt der scheinbar Stärkere am längeren Hebel.

 

Carl Gustaf Ströhm, Jahrgang 1930, war lange Jahre Osteuropa-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt. Seit April dieses Jahres schreibt er regelmäßig für die JUNGE FREIHEIT.


 
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