© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Im Bann der Europa-Mystik
Der französische Zeithistoriker Dominique Venner über Hoffnungen und Illusionen der "Kollaboration"
Jean-Jacques Mourreau

In Frankreich ist der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit zumeist entweder von fanatischem Sektierertum oder von achtloser Nonchalance geprägt. Die Auseinandersetzung findet in jedem Fall nur fragmentarisch, ohne jegliches erkennbare Streben nach Kohärenz statt. Dem Publizisten und Historiker Dominique Venner gereicht es zur Ehre, daß er sich jetzt endlich um einen globalen und ausgeglichenen Zugang bemüht. Venners Werke entwerfen eine neue Lesart der Zeitgeschichte und ein umfassendes, detailliertes Bild von Europa. Insofern weist sein Œuvre durchaus Affinitäten mit dem Ernst Noltes auf. Was zuletzt in der "Geschichte der Kollaboration" mündete, begann mit einer "Geschichte des deutschen Faschismus, 1918–1934" und nahm seinen Lauf über "Die Weißen und die Roten: Geschichte des russischen Bürgerkriegs, 1917– 1921" und eine "Kritische Geschichte der Résistance". Damit hat sich Venner jetzt eines Themas angenommen, das nach wie vor einen wunden Punkt im französischen Selbstbewußtsein darstellt. Die Polemiken über die Vergangenheit François Mitterrands legten davon ein ebenso beredtes Zeugnis ab wie die angeblichen Enthüllungen über den Schriftsteller und Linguisten Roparz Hemon. Schließlich geht es um so nachhaltige Ereignisse wie die französische Niederlage im Juni 1940, die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und vor allem um den Bürgerkrieg, den die Franzosen untereinander austrugen. Venner vermeidet jede Parteinahme und glänzt statt dessen in seiner Fähigkeit zur klaren Synthese. Von unschätzbarem Nutzen für eine seriöse Beschäftigung mit dieser Periode sind auch die drei nach Parteien, Publikationen und Personen gegliederten Sachregister seines jüngsten Werkes.

Die JUNGE FREIHEIT sprach mit mit Dominique Venner:

Auf welche Weise und weshalb kam die "Kollaboration" zustande? Welche Rolle spielte dabei der Willen Marschall Philippe Petains?

Venner: Seinen Anfang nahm das ganze mit der vernichtenden Niederlage vom Juni 1940. Frankreich hatte sich nie von dem fürchterlichen Aderlaß des Ersten Weltkriegs erholen können, der hierzulande noch schlimmer war als in Deutschland, wo die Geburtenrate höher lag. Dazu kam, daß 1939 dieMehrheit der Franzosen gegen einen neuerlichen Krieg im Schlepptau der Engländer war. Man sah hierfür keinerlei Rechtfertigung und war überzeugt, daß ein solcher Krieg Frankreich keinen Nutzen bringen würde. In dieser hoffnungslosen Lage wandten sich die französischen Politiker an den alten und hochangesehenen Marschall Petain – er war damals 84 Jahre alt – und übertrugen ihm volle Verfügungsgewalten. Der alte Häuptling versprach den Franzosen, ihnen zur Seite zu stehen, "um ihre Leiden zu mildern". Seine Außenpolitik beruhte auf zwei realpolitischen Grundüberlegungen. Zum einen war er der Überzeugung, Frankreich brauche Frieden, um sich zu regenerieren. Deshalb werde er sich weigern, es erneut in den Krieg zu führen – gegen wen auch immer. Zum anderen wollte er sein Land vor der Wucht einer Niederlage soweit wie möglich bewahren. Die "Kollaboration" war aus seiner Sicht nichts weiter als der geeignete Weg, diese Ziele zu erreichen. in der Öffentlichkeit aber wurde dieser Gedanke völlig anders aufgenommen, sowohl bei seinen Befürwortern als bei seinen Gegnern.

Ein Teil Ihres Werkes ist der Rekonstruktion des deutsch-französischen Verhältnisses gewidmet. Warum scheint Ihnen dies so bedeutsam?

Venner: Es ist bizarr, daß dieser Aspekt in der Beschäftigung mit dieser Periode generell ausgeklammert wird. Die Niederlage von 1940 hatte das besetzte Frankreich vollständig der Hoheit des Reiches unterstellt. Es handelt sich hierbei um eine der wichtigsten Episoden in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen: eine Episode, die schwierig war, oft von Grausamkeit geprägt, manchmal aber auch von einem beidseitigen realen Bestreben nach Wiederversöhnung – trotz der momentanen widrigen Umstände. Nehmen Sie das Beispiel des Rheinländers Otto Abetz, des deutschen Botschafters in Paris. Selbstverständlich gehorchte er den Befehlen seiner Regierung, bemühte sich aber aus Freundschaft zu Frankreich, deren Auswirkungen zu mildern.

Sie stellen die Rolle und Person des Jacques Benoist-Méchin besonders heraus. Wie kam dessen Engagement zustande?

Venner: Jacques Benoist-Méchin war ein Intellektueller, der sich danach sehnte, aktiv zu werden. Ihm war bewußt, daß die Zeit, in der er lebte, ihm die einmalige Gelegenheit bot, das Potential zu verwirklichen, das er in sich spürte. Im Gegensatz zu den meisten an der "Kollaboration" beteiligten Franzosen kannte er Deutschland. Er sprach die deutsche Sprache so fließend, daß er Fritz von Unruhs "Opfergang" ins Französische übersetzt hatte. Die von ihm verfaßte "Geschichte der deutschen Armee" gilt noch heute als ein Standardwerk für die Zeit von 1918 bis 1939. Zu Beginn des Jahres 1941 wurde er zum zuständigen Staatssekretär für deutsch-französische Beziehungen unter der Regierung Admiral Darlans ernannt. Er war davon überzeugt, daß Deutschlands Sieg Bestand haben würde. Was ihn allerdings von Marschall Petain und vielen anderen unterschied, war, daß er eine solche Entwicklung herbeiwünschte, weil er der Meinung war, daß ein dauerhafter deutscher Sieg den europäischen Völkern die Möglichkeit geben würde, sich aus der angelsächsischen Bevormundung zu befreien. Eine solche Revolution hielt Benoist-Méchin für überfällig. Er hatte ein politisches Projekt entworfen, das ebenso ehrgeizig wie illusorisch war. Er wollte Frankreich nämlich dazu bringen, sich in Afrika und im Mittelmeerraum auf einen Krieg gegen England einzulassen. Dies sei der einzige Weg, sein Land aus der Niederlage zu führen und von Deutschland zu fordern, Frankreich als Partner zu behandeln. Darüber hinaus sollte diese Politik einen strategischen Sieg über England ermöglichen, der geeignet gewesen wäre, den Ausgang des Konflikts zu beeinflussen. Im Grunde stimmte seine Position mit der General de Gaulles überein – nur daß sie sich diametral entgegengesetzt waren. Seinen Bemühungen war jedoch kein Erfolg beschert. Seine große Idee vertrug sich weder mit den Absichten Marschall Petains noch mit denen Hitlers, der auf keinen Fall zugelassen hätte, daß sich Frankreich aus seiner Position des Besiegten befreite.

Französische Befürworter der "Kollaboration" beschworen immer wieder die europäische Dimension. Gab es von deutscher Seite eine entsprechende Erwiderung?

Venner: Seit im Juni 1941 der Krieg im Westen begann, gab es in der deutschen Propaganda eine Art Mystik des "Neuen Europas". Gewiß ist dies in den Kreisen der "Kollaboration" auf offene Ohren gestoßen. Auch viele Deutsche glaubten daran, vor allem unter Jugendlichen und Frontsoldaten. Aber die Machthaber im Reich, allen voran Hitler, waren und blieben pangermanische "Jakobiner". Sie hatten keinerlei europäische Vision, sondern höchstens die eines unterworfenen Europas.

Sie erwähnen zahlreiche Linke, die sich mit der "Kollaboration" anfreundeten. Wie erklären Sie sich, daß eine solche Haltung heutzutage ausschließlich und unterschiedslos der Rechten angelastet wird?

Venner: In der Vorkriegszeit hatte sich die Linke pazifistisch verhalten. Teilweise war sie der Anziehungskraft des Faschismus verfallen und fühlte sich von der "sozialistischen" Komponente des Nationalsozialismus angesprochen. Die drei wichtigsten Politiker der "Kollaboration" hatten zu den brillantesten Hoffnungsträgern der Linken gehört: Marcel Déat bei den Sozialisten, Jacques Doriot bei den Kommunisten, Gaston Bergery bei den Radikalen. Sozialisten verschiedener Provenienz bildeten die wichtigste Partei der "Kollaboration". Dies alles ließen die Kommunisten wie von Zauberhand aus dem Gedächtnis der Nation verschwinden, nachdem der blutige Bürgerkrieg der Franzosen gegen die Franzosen von 1943/44 beendet war. Statt dessen sorgten sie für die Etablierung der Fiktion, daß jeder Linke, der sich an der "Kollaboration" beteiligt hatte, ein Rechter geworden war.

Sie sprechen explizit von "Bürgerkrieg". Ernst Nolte benutzt denselben Begriff, aber auf Europa bezogen. Sehen Sie Konvergenzen zwischen Ihrer Position und der Noltes?

Venner: Ich empfinde nichts als Bewunderung für Ernst Nolte und seine Arbeit. Wir haben uns vor kurzem in Paris getroffen, um über sein Buch zu debattieren. Die zentrale These Noltes sagt aus, daß Europa zwischen 1917 und 1945 einen Bürgerkrieg erlebte, in dem der Nationalsozialismus als Reaktion und extreme Antwort auf den Bolschewismus zu werten ist, Auschwitz als Konsequenz und Imitation des Gulag. Dieser These liegen solide Argumente zugrunde. Ich möchte dazu folgende Beobachtungen anmerken: Ich meine, daß sich der Nationalsozialismus und der Faschismus in ihrer Essenz nicht auf eine bloße Reaktion auf den Bolschewismus reduzieren lassen. Meiner Meinung nach waren diese Bewegungen eine brutale Entgegnung der jungen, feuergetauften Erlebnisgeneration des Ersten Weltkriegs auf die problematische Modernisierung Europas in den zwanziger Jahren. Allen ihren Fehltritten zum Trotz war diese Entgegnung in Europa mit großen Hoffnungen verbunden. Meine zweite Bemerkung zielt auf die Reduktion der Periode von 1917 bis 1945 auf einen Bürgerkrieg. Es handelte sich nicht um einen rein europäischen Konflikt. Das Jahr 1917 war zweifelsohne das Jahr der bolschewistischen Revolution, aber es war auch das Jahr, in dem die amerikanische Einmischung in das Schicksal Europas begann. Ich glaube nicht, daß man diese Dimension ignorieren kann, sind doch ihre Auswirkungen heute spürbar.

 

Dominique Venner: Histoire de la Collaboration, Band 1, 767 Seiten, Verlag Pygmalion/Gérard, Paris. ISBN: 285704-642.1 Débat Dominique Venner et Ernst Nolte, in: éléments Nr. 98, Mai 2000


 
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