© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Weltmacht von morgen
Zum Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in Deutschland
Michael Wiesberg

Nicht von ungefähr standen während des Staatsbesuches des chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji in Deutschland die Wirtschaftbeziehungen beider Länder im Mittelpunkt der Gespräche. Das Thema "Menschenrechte", obligater Tagesordnungspunkt bei jedem Besuch eines chinesischen Politikers im Westen, rangierte einmal mehr unter "ferner liefen". Zu groß ist inzwischen das Interesse des Westens an einer Erschließung des chinesischen Marktes, die gutdotierte Aufträge für die heimische Wirtschaft verspricht.

Die ideologischen Unterschiede zwischen China und dem Westen geraten bei dieser gegenseitigen Interessenslage mehr und mehr zur quantité negligeable. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die rot-grüne Bundesregierung kaum von christliberalen. Der indifferenten Haltung des Westens gegenüber China entspricht die Chinas gegenüber dem Westen. Denn der vehementen Zurückweisung westlichen Einflusses in die inneren Angelegenheiten Chinas steht aus chinesischer Sicht die Notwendigkeit gegenüber, westliches Kapital und westliche Technologie ins Land holen zu müssen, soll das Ziel erreicht werden, den ökonomischen Rückstand gegenüber dem Westen abzubauen. Daß damit aber der westliche Einfluß auf China zunimmt, markiert einen Teil des derzeitigen chinesischen Dilemmas.

In einer Reihe von Abhandlungen hat der Gelehrte Feng Guifen argumentiert, China müsse seine Anstrengungen forcieren, ausländische Methoden in der Absicht zu übernehmen, der westlichen Herausforderung besser begegnen zu können. China müsse zunächst, so Feng, von den Ausländern lernen, dann mit ihnen gleichziehen und diese dann schließlich übertreffen. Wenn man so will, folgt die von Deng Xiaoping 1982 erhobene Forderung, einen Sozialismus mit chinesischem Antlitz zu bauen, genau dieser Linie. Deng wies die gedankenlose Kopierung und Adaption ausländischen Wissens zurück und forderte die Parteifunktionäre dazu auf, die Entwicklung Chinas an den chinesischen Realitäten auszurichten und einen eigenen chinesischen Weg zu finden.

Von dieser Warte aus verfolgt China eine Politik der nationalen Stärke auf der Basis einer möglichst weitentwickelten Ökonomie. Dieses Bestreben brachte Zhang Ming auf den Punkt in einem von der Universität für Nationale Verteidigung der USA herausgegebenen Sammelband mit dem Titel "Die Wandlung der chinesischen Außenpolitik" (Washington 1995): "Nationaler Wohlstand", so Zhang, "wird durch ökonomische Entwicklung erreicht". Diese sei der "Kern des nationalen Interesses Chinas". Zhang argumentiert weiter, daß der Entwicklung der ökonomischen Produktivität über einen langen Zeitraum hinweg Priorität eingeräumt werden müsse, weil die aus ihr folgende militärische und politische Stärke auf einer effizienten Wirtschaft basierten.

Vor diesem Hintergrund muß Chinas vordergründige Akzeptanz der Spielregeln der westlichen Marktwirtschaft gedeutet werden. Diese scheinbare Akzeptanz sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß China weiter seine eigenen Interessen verfolgt und marktwirtschaftliche Prinzipien nur insoweit zu übernehmen bereit ist, wie diese sich für die chinesischen Interessen vorteilhaft auswirken. Hier besteht im übrigen ein unüberbrückbarer Interessengegensatz zu den USA, deren geostrategische Ziele auf die Herbeiführung einer globalen Demokratie hinauslaufen, die marktwirtschaftlich geprägt ist. Chinas Politiker haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie die Durchsetzung von demokratischen Prinzipien gegenüber China als direkten Angriff auf die nationale Integrität und als Bedrohung für die Stabilität Chinas ansähen.

In diesem Zusammenhang ist auch die Menschenrechtsproblematik zu sehen. Westliche Werte stehen im deutlichen Konflikt mit chinesischen Wertvorstellungen. Damit ist vorrangig der Grundkonflikt Gemeinschaft-Individuum gemeint, der zu einer völlig unterschiedlichen Deutung dessen führt, was in hiesigen Kreisen unter "Menschenrechte" verstanden wird. Aus chinesischer Sicht hat die Stabilität der Gemeinschaft Vorrang vor den Rechten des Individuums. Westliche Menschenrechtsfundamentalisten blenden diesen Gegensatz in der Regel aus. Sie wollen oder können nicht sehen, daß die Durchsetzung eines westlichen Individualismus in China in einer revolutionären Situation münden würde, die China in einen Zustand der nationalen Schwäche zurückwerfen könnte – ein Trauma vieler Chinesen.

Der "einzigen Supermacht" USA sind die Absichten der Chinesen natürlich nicht verborgen geblieben. Hier stellt man sich mehr und mehr darauf ein, daß sich China zu einem globalen Konkurrenten entwickeln wird. Nach Auffassung vieler US-Analytiker wird der Antagonismus zwischen China und den USA der erste massive Konflikt des 21. Jahrhunderts werden. Die USA gehen davon aus, daß sich die Rivalität zwischen beiden Supermächten auf alle relevanten Wettbewerbsbereiche erstrecken wird: auf den militärischen und den wirtschaflichen Sektor, auf geostrategische Ambitionen, aber auch auf internationale Normen und Werte. Die USA sehen sich bereits heute durch chinesische Hegemoniebestrebungen im südostasiatischen Raum herausgefordert.

Daß die politischen Interessengegensätze zwischen den USA und China bisher kaum nennenswert zu Buche geschlagen sind, liegt an den beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen. Was geschieht, wenn die Chinesen aus ihrer Sicht mit dem Westen technologisch und ökonomisch gleichgezogen haben, bleibt abzuwarten.


 
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