© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Rußlands eigener Weg
von Wolfgang Seiffert

An den Moskauer Universitäten beginnen die Prüfungen schon im Juni. Dies gab mir Gelegenheit, Anfang und Mitte Juni in Deutschland zu sein. Schon auf dem Flughafen in Hamburg fing es an. Der Taxifahrer erkundigte sich, wie das wohl nicht selten der Fall ist, woher ich käme. "Aus Moskau", antwortete ich. "Oh, aus Moskau? Da ist es sicher kalt." "Wieso – heute früh waren dort fast 30 Grad und hier sind es gerade mal 16 Grad". Wenige Tage später nahm ich in Mainz an einer Tagung bekannter Osteuropaforscher teil und erzählte, daß ich ein Buch über Rußland unter Putin geschrieben habe. Der Titel "Wiedergeburt einer Weltmacht". "Doch sicher mit Fragezeichen", fragte ein Kollege. (Tatsächlich endet der Titel meines neuen Buches mit einem Fragezeichen, doch aus ganz anderen Gründen als der Kollege erhoffte.)

Dann kam Putin nach Deutschland und viele Menschen fanden ihn sympatisch. Den deutschen Medien schien das nicht zu gefallen. In der Welt vom 20. Juni mokierte sich Ernst Cramer über "einen richtigen Verbrüderungsspektakel". Besorgt fragte der Autor, ob denn ein Geheimdienstmann wie Putin Rechtssicherheit garantieren könne. "Wird es in Rußland Pressefreiheit geben? Wird Moskau das internationale Recht anerkennen?"

Das klingt gut, ist aber dennoch falsch. Putin ist nicht "Geheimdienstmann", sondern Präsident Rußlands und laut Verfassung "Garant der Verfassung". Pressefreiheit gibt es in Rußland seit Jelzin und der Verfassung von 1993; die Frage kann also nur heißen: werden Verletzungen der Pressefreiheit geahndet? Rußland steht auch nicht vor dem Problem, das internationale Recht anzuerkennen. Es ist Mitglied, ja Gründer der Vereinten Nationen und vieler internationaler Konventionen und Verträge. Die Frage kann also auch hier nur lauten: werden die Vereinbarungen eingehalten oder nicht? Da sollte, wer im Glashaus "Nato-Militäraktion gegen Jugoslawien" sitzt, lieber nicht mit Steinen werfen. Man kann hier den Autor nur selbst zitieren: "Mehr Sachlichkeit ... wäre vernünftiger gewesen."

Aber solche Entgleisungen sind bei der Berichterstattung über Rußland in deutschen Medien leider keine Seltenheit. Da titelt die FAZ vom 24. Juni einen Bericht ihrer Korrespondentin aus Moskau "Die russische Regierung attackiert einen weiteren Oligarchen", im Text aber erfahren wir, daß es die Moskauer Staatsanwaltschaft war, die beim "Schiedsgericht eine Klage gegen die Potanin-Gruppe wegen gesetzeswidriger Privatisierung eingereicht hat. Also war es nicht die russische Regierung, sondern die Staatsanwaltschaft. Die Übersetzung des russischen Wortes "Arbitragegericht" als Schiedsgericht ist zwar richtig, erweckt aber beim Leser doch den falschen Eindruck, es handele sich um ein Schiedsgericht im eigentlichen Sinne des Wortes.

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Daß Rußlandbild in der deutschen Öffentlichkeit hat wenig mit der Realität zu tun. Mit dem Wechsel zu Putin hat ein Prozeß begonnen, der mit "Wiedergeburt einer Weltmacht" nicht übertrieben gekennzeichnet ist.

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Tatsächlich aber handelt es sich um ein staatliches Wirtschaftsgericht, das Streitigkeiten im Wirtschaftsbereich entscheidet. Außerdem geht es nicht um die "Neuverteilung von Staatseigentum" wie die FAZ unter Berufung auf die Moskauer Iswest vermutet, sondern darum, ob die gesetzlichen Bestimmungen der Privatisierung verletzt wurden oder nicht. Also ist das Verfahren bis zum Beweis des Gegenteils zunächst einmal Zeichen bestehender Rechtssicherheit. Wo ist da die journalistische Fairneß, wo Objektivität und vor allem, wo bleibt da die Wahrheit?

Man könnte die Reihe der Beispiele fortsetzen. Wichtig erscheint es jedoch, sie als ein Indiz von vielen zu werten, daß das Rußlandbild, das in der deutschen Öffentlichkeit besteht (oder erzeugt wird), mit der Wirklichkeit im heutigen Rußland wenig gemein hat. Dies ist umso gravierender als in Rußland gegenwärtig mit dem Wechsel von Jelzin zu Putin ein Prozeß begonnen hat, der mit "Wiedergeburt einer Weltmacht" wohl nicht übertrieben gekennzeichnet ist. Einen solchen Prozeß mit kleinkarierten Vermutungen und Verdächtigungen zu begleiten, ist wohl nicht nur niveaulos, sondern kann auch dazu verleiten, historische Chancen und Entwicklungen zu verpassen, wie dies dem Westen schon so oft in Bezug auf Rußland unterlaufen ist.

Mich erinnert dies stark an die letzten Jahre vor der deutschen Wiedervereinigung. Damals veröffentlichte ich mein Buch "Das ganze Deutschland – Perspektiven der Wiedervereinigung" (Piper Verlag, München). Ich erhielt viele Einladungen von Politikern, doch ernsthafte politische Konsequenzen gab es nicht, und obwohl noch andere Wissenschaftler ähnliche Thesen vertraten, kam die Chance der Wiedervereinigung für unsere Politiker quer durch alle Parteien "überraschend". Manche Wissenschaftler, die die Wiedervereinigung schon abgeschrieben hatten, übten später Selbstkritik. Politiker taten das nicht; sie sitzen heute in der Regierung.

Solche Erfahrungen stimmen nicht optimistisch. Dennoch ist es notwendig, erneut darauf hinzuweisen, was heute in Rußland geschieht. Dabei kann es nicht vorrangig um Sensationsmeldungen von Verhaftungen und Freilassung dieses oder jenes Bankiers oder "Oligarchen" gehen. Kluge Analytiker internationaler Entwicklungen wie Henry Kissinger (Welt am Sonntag vom 21. Mai) kritisieren zu Recht, daß "westliche Politiker stets so agiert haben, als bildeten sie in der russischen Innenpolitik selbst eine Partei" und meint, "letzten Endes ist die Wirtschaftsreform in Rußland eine innere Angelegenheit Rußlands, die dort auch entschieden wird".

Das ist in der Tat so. Doch was dort jetzt geschieht, soll Rußland wieder zu einer Weltmacht, nicht nur kraft seiner völkerrechtlichen Positionen, sondern tatsächlich auch politisch, militärisch und wirtschaftlich machen, und von daher berührt dies unser aller Interessen. Hier nun gilt es festzuhalten, daß Rußland schon heute – am Ende der Präsidentschaft von Boris Jelzin – ein völlig anderes Rußland ist als vor zehn Jahren.

Das Sowjetsystem ist unwiderruflich verschwunden. An seine Stelle ist ein demokratisch verfaßtes Rußland getreten, in dem es Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Mehrparteiensystem, freie und geheime Wahlen gibt und Rechtsstaatlichkeit existiert. Gewiß – vieles ist noch mangelhaft, es gibt vielfältige Verstöße gegen diese Prinzipien, aber sie sind nicht nur verfassungsrechtlich garantiert, sie werden auch praktiziert.

Planwirtschaftssystem und Staatseigentum sind durch Marktwirtschaft und privates Eigentum ersetzt worden. Dieser Prozeß ist im wesentlichen abgeschlossen. Zweifellos trifft es zu, daß die Marktwirtschaft vielfach die Züge eines "wilden Kapitalismus" trägt, der mit Korruption und organisiertem Verbrechen verknüpft ist. Aber diese neue Wirtschaft ist existent und entwickelt sich.

l Es gibt eine neue politische Klasse, die sich nicht nur ihrer eigenen unmittelbaren Interessen bewußt ist, sondern auch der Probleme und Interessen des Landes und unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Konzeptionen zu ihrer Lösung entwickelt.

l Es ist bisher nicht gelungen, eine Struktur des Föderalismus zu finden, die das russische Reich verläßlich zusammenhält. Die "Föderation Rußland" ist vielmehr vom Zerfall bedroht. Das zweimalige gewaltsame Vorgehen gegen Tschetschenien im Kaukasus ist hierfür das Zeichen an der Wand.

l Der Rückgang der Weltmachtstellung Rußlands ist unübersehbar und provoziert das Großmachtbewußtsein des russischen Volkes.

l Erste Anfänge wirtschaftlicher Stabilisierung geben Hoffnung, daß überhaupt eine Etappe der Stabilisierung des Erreichten und der Überwindung der Mängel und noch offenen Probleme beginnt.

Wichtig erscheint mir, daß es sich bei der Entwicklung Rußlands vor allem in den ersten fünf bis sechs Jahren politologisch wie systemtheoretisch nicht um Reformen, sondern um einen revolutionären Prozeß des Systemwechsels gehandelt hat. Diese Zeit ist mit dem Ende der Präsidentschaft Jelzins zu Ende gegangen.

Im Gegensatz zu dieser tatsächlichen Situation findet sich im Rußlandbild der deutschen Öffentlichkeit Rußland nur als krisengeschüttelter, verarmter, im eigenen Land kriegführender Staat. Deshalb fällt es auch so schwer, sowohl zu erkennen, welch anderes Land Rußland heute ist als vor zehn Jahren, wie zu begreifen, vor welchen Problemen Putin steht, was er will und was er kann.

Die Frage "Wer ist Putin?" ist inzwischen hinreichend beantwortet. Doch bei der Frage "Was will Putin?" heißt es noch immer: das sei noch offen und unbestimmt. Doch eigentlich ist schon lange vieles erkennbar (so auch Henry Kissinger in der Welt am Sonntag vom 21. Mai 2000). Zum Katalysator aller Probleme, vor denen Rußland und sein neuer Präsident heute stehen, wurde Tschetschenien. Schon bei der militärischen Auseinandersetzung zwischen den Organen der Föderation und Tschetschenien 1994–96 betraf die Kernfrage die Eigenständigkeit Tschetscheniens und seine Zugehörigkeit zur Föderation. Dennoch zeichneten sich damals durchaus Varianten ab, Tschetschenien mehr als nur Autonomie im Rahmen der Föderation zu geben.

1999 bestand eine andere Situation. Maschadow war es nicht gelungen, in Tschetschenien innenpolitische Stabilität dauerhaft zu sichern. Immer wieder kamen international gesuchte Terroristen ins Land, Kriminalität und das bei den Tschetschenen traditionell betriebenen "Brigantentum" nahmen zu. Schließlich stießen Einheiten der sogenannten Feldkommandanten, unterstützt von islamischen "Freiheitskämpfern", nach Dagestan vor, um dort eine islamische Republik zu forcieren. In Moskau kam es zu Bombenattacken auf Wohnhäuser, deren Urheber bei den Tschetschenen vermutet wurden.

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Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die bisherige Rußlandpolitik des Westens ebenso erfolgreich war – Rußland ist schwächer als vor zehn Jahren – wie sie dazu beigetragen hat, daß dieses Land nun zur Besinnung kommt.

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Statt der Hoffnungen Jelzins, gleichrangiger Partner des Westens zu sein, erlebte Rußland mit den Nato-Angriff auf Jugoslawien eine beispiellose Demütigung und Bloßstellung seiner Schwäche, die in dem Anspruch der USA gipfelte, eine neue Weltordnung zu etablieren, die nicht mehr auf den völkerrechtlichen Prinzipien der UNO beruhte, sondern auf den von der Nato ausgegebenen Direktiven.

In dieser Situation konnte Rußland gar nicht anders, als auf eine Weise zu handeln, die nach innen und nach außen klarmacht: Die Großmacht Rußlands weiß seine territoriale Integrität sowie die innere Ordnung zu wahren und läßt sich von keiner anderen Großmacht eine neue Weltordnung aufzwingen.

In dieser zugespitzten Auseinandersetzung fand auch die Frage nach der eigenen Identität bei der Mehrheit der Russen eine Antwort: Es ist nicht der Nationalstaat, der nur das Territorium umfaßt, auf dem nur oder überwiegend Russen siedelten, sondern es ist das russische Reich, die russische Großmacht, wie sie sich geschichtlich herausgebildet hat, zumindest in den Grenzen der heutigen Verfassung der Russischen Föderation.

Und für dieses Ziel setzte Putin seine Programmpunkte: ein starker Staat, den Übergang der Wirtschaft in den nächsten zehn Jahren zur High-Technologie, Rückkehr Rußlands zur erneuerten "russischen Idee" und außenpolitisch konsequente Vertretung der russischen Interessen. Dem Zerfall Rußlands muß ein Ende gesetzt werden.

Zweifellos wird Putin dieses russische Allgemeininteresse mit der Bereitschaft vertreten, überall da, wo eine Übereinstimmung oder Abstimmung mit den Interessen des Auslands einschließlich den USA und den Nato-Staaten möglich ist, auch zur Zusammenarbeit zu kommen. Doch eine Zurückstellung oder gar Unterordnung der eigenen Interesssen gegenüber dem Ausland wird es mit ihm nicht geben.

Der Besuch Putins in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union ebenso wie sein Treffen mit Clinton, haben dies bestätigt. Damit kommt der Westen nicht umhin, seine Rußlandpolitik zu überdenken und neu zu formulieren. Bisher lief sie darauf hinaus, Rußland in ein Land mit Marktwirtschaft und Demokratie nach westlichem Vorbild, vor allem der USA, umzuwandeln und als Weltmacht einzubinden und zu schwächen. Es ist die Ironie der Geschichte, daß diese Rußlandpolitik des Westens ebenso erfolgreich war – Rußland ist schwächer als vor zehn Jahren – wie sie dazu beigetragen hat, daß dieses Land nun in jeder Hinsicht zur Besinnung auf seine eigenen Interessen, Potenzen und Wege kommt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert, 64, lehrt als Völkerrechtler am Zentrum für deutsches Recht im Institut für Staat und Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften. Davor lehrte er – nach seiner Aussiedlung aus der DDR – von 1978 bis 1994 an der Universität Kiel, wo er zuletzt Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht war. Im Verlag Langen Müller, München, erschien soeben sein neuesten Buch "Wladimir Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?"


 
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