© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Schachspiel als Solopartie
Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung der deutschen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg
Orlanda Rossetti

Besaß für Friedrich Nietzsche die Historie neben der kritischen auch noch eine antiquarische und monumentalische Funktion, so betrieben die bundesdeutschen Sonderwegshistoriker ausschließlich kritische Historiographie. Die Idee, Geschichtsschreibung könne auch Identität stiften, wurde mit allerlei soziologischem Jargon ideologiekritisch entlarvt und in das 19. Jahrhundert verwiesen. Gediegene Verfassungspatrioten wie Hans-Ulrich Wehler, Hans Mommsen oder Hagen Schulze können sowieso nichts mit nationaler Identität anfangen, wie sie jüngst bei den Frankfurter Römerberggesprächen erneut zu Protokoll gaben. Einzig eine "negative Identität" können und wollen diese BRD-Treitschkes konstruieren.

Dieses Bestreben scheint auch den Philosophiehistoriker Kurt Flasch in seinem aufgeblähten Essay zur geistigen Mobilmachung in Deutschland zu leiten. Mit diesem Ansatz und seinem Jahrgang (1930) besitzt Flasch veritable Chancen, künftig zu der von Günter Maschke aufgespürten "Verschwörung der Flakhelfer" gerechnet zu werden. Flasch scheint persönlich gekränkt zu sein, daß es auch positive "Inventions of Tradition" gibt. Daher berichtet er bestürzt über den breiten Chor der patriotischen Philosophen und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, die von der Einheit der Nation, ihrer Geschichte und Zukunft berauscht waren und im Sog der "Ideen von 1914" die deutsche Geistes- und Religionsgeschichte allzu sehr harmonisierten. In seinem Ärger darüber vergißt es Flasch, zentrale Fragen über den geistigen Kampf der "Intellektuellen" (was der Autor unter diesem Begriff versteht, bleibt denkbar unklar) zu beantworten: Warum zerbrach im August 1914 so schnell die internationale "scientific community"? Warum griffen mit einem Male so viele Akademiker in die Politik ein? Welche Ideale und Hoffnungen trieben so unterschiedliche Männer wie den Zoologen Ernst Haeckel, den Neoidealisten Rudolf Eucken, den jüdischen Neukantianer Hermann Cohen oder den nationalliberal geprägten Theologen Ernst Troeltsch dazu, sich in den Dienst der patriotischen Sache zu stellen?

Als einen Fingerzeig hätte Flasch das in Deutschland verbreitete Gefühl registrieren müssen, man lebe in einer "Welt von Feinden". Aber Flasch interessiert sich nur für die eine Seite der Medaille. Über die Deutschenhatz in Frankreich, England und zunehmend in Amerika weiß er nichts zu berichten. Ebensowenig über den Franktireurkrieg in Belgien, der in einigen Fällen zu überharten Reaktionen des deutschen Heeres führte, was dem gesamten deutschen Volk den Barbareivorwurf einbrachte. Dieser wurde wiederum von deutschen Gelehrten und Künstlern als tief verletzend zurückgewiesen.

Da er die intellektuelle Reflexion von Weltgeschichte nicht als interaktiven Prozeß begreift, nimmt sich diese Studie so aus, als spiele Flasch eine Schachpartie nach, indem er nur die Züge von einem der beiden Spieler heranzieht. Das indiziert einen schlimmen Rückfall hinter ansatzweise erreichte wissenschaftshistorische Fortschritte. Hatte doch der Baseler Historiker Jürgen von Ungern-Sternberg 1996 bereits gefordert, die Professorenpublizistik als "polemische Gespräch" zu begreifen. Denn es sei geradezu "grotesk", wenn der größte Teil der deutschen Historiker bei diesem Thema die "ins Absurde gesteigerten Haßtiraden" westeuropäischer Intellektueller kurzerhand ausblende und auf diese Weise unterschlage, daß sich die deutschen Gelehrten 1914 "gänzlich in der Defensive" befanden. Ähnlich äußerte sich der Berliner Soziologe Hans Joas, der ebenfalls 1996 hervorhob, daß der "Bellizismus" gewiß keine deutsche Besonderheit gewesen sei, sondern eine "hemmungslose Gewaltrhetorik" etwa in den 1914 noch neutralen USA zum guten publizistischen Ton gehört habe.

Wer wie Flasch solche Positionen ignoriert, erschließt natürlich auch keine neuen Quellen. Etwa die Berichte des Breslauer Philosophen Eugen Kühnemann an den preußischen Kultusminister Schmidt-Ott. Kühnemann hatte sich zehn Jahre im deutsch-amerikanischen Kulturaustausch abgemüht und war im Sommer 1914 wieder in die Staaten gereist, um für Deutschland zu werben. Tief enttäuscht rapportierte er schon wenige Tage nach seiner Ankunft in New York: "Die Abneigung gegen Deutschland überschattet alles. Wir sind auf diesem neutralen Boden auf Feindesland." Wenig später hieß es: "In diesem Land wird Deutschland täglich auf das niederträchtigste beleidigt."

Flasch hätte im übrigen auch bemerken können, daß die Deutschen sich 1914 an 1870/71 erinnerten. Damals war die regionale Aussöhnung erreicht worden, konnte nun nicht die soziale gelingen? Das die deutschen Geistesspitzen so oft von einem "deutschen Sozialismus" sprachen, fällt schon bei einer oberflächlichen Durchsicht der Weltkriegstexte auf. Selbst moderate Männer wie Ernst Troeltsch näherten sich in ihrer Verteidigung des "preußischen Sozialismus" der antikapitalistischen "Plutokratie"-Kritik alldeutscher Wortführer wie Admiral Tirpitz. Statt hier nachzuhaken, arbeitet Flasch lieber mit nichtssagenden Wortungetümen wie "Lyrisierung", "Theologisierung" oder "Maskulinisierung", die er zur Etikettierung der Quellen heranzieht. Damit verstellt er sich und den Lesern den Zugang zu Texten von Rudolf Borchardt oder Thomas Mann, die es durchaus nicht verdient haben, von Flasch traktiert zu werden.

Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 447 Seiten, geb., 68 Mark


 
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