© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Bedürfnis nach Harmonie
Zur Diskussion um den Wiederaufbau der Königsschlösser in Berlin und Potsdam
Doris Neujahr

Die Chancen für den Wiederaufbau der abgerissenen Königsschlösser in Berlin und Potsdam sind in den letzten Wochen steil gestiegen. Die gleich nach 1989 aufgeflammten Diskussionen haben endlich eine reale Basis erhalten. Die Errichtung einer Schloßattrappe auf dem früheren Areal des Berliner Schlüter-Baus im Sommer 1993, so läßt sich rückblickend konstatieren, hat die erhoffte Langzeitwirkung entfaltet. Die wenigen Wochen, in denen die Kulisse aus Stoffbahnen die Leerstelle im Herzen der Stadt füllte, hatte in den Betrachtern den überzeugenden Eindruck verankert, daß der im Krieg zerbombte, Ende 1950 von der SED gesprengte Barockbau den unverzichtbaren Bezugspunkt für die architektonische Komposition der Innenstadt darstellt, ohne den die Berliner Mitte ein loses Konglomerat von Einzelgebäuden ist.

Inzwischen haben die Befürworter eindeutig Oberwasser erhalten. Hatte die Erklärungen von Bundeskanzler Schröder, er finde das Berliner Schloß "schön", vor über einem Jahr noch einen Aufschrei der politischen Tugendwächter erzeugt, nahmen sie schon es mit stiller Resignation hin, als Ende März Antje Vollmer und Franziska Eichstädt-Bohlig für die grüne Bundestagsfraktion ein Konzept zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses vorstellten. Damit sind die Grünen nach der FDP die zweite Bundestagsfraktion, die sich eindeutig zum Schloßaufbau bekennt. Im Innern sollen nach den grünen Vorstellungen keine Stätten staatlicher Repräsentation, auch kein Hotel oder Tagungszentrum, sondern "bürgernahe" Einrichtungen wie die Stadtbibliothek und ein Medienzentrum oder ein Auditorium Maximum für die Humboldt-Universität untergebracht werden. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, kann sich hingegen ein Museum, einen deutschen Louvre, vorstellen. Konkret ist das Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem, das bis vor kurzem Museum für Völkerkunde hieß, dafür ins Gespräch gebracht worden.

In einer Art Synergieeffekt ist man daraufhin in Potsdam von der unverbindlichen Willensbekundung zur politischen Beschlußfassung übergegangen. Mit großer Mehrheit hat die Stadtverordnetenversammlung im April beschlossen, den Zweitsitz der Preußenkönige neu aufzubauen, was in der PDS-dominierten Stadt keine Selbstverständlichkeit ist! Den Startschuß für den Bau hat der Fernsehmoderator Günter Jauch, ein Neu-Potsdamer, gegeben, indem er Sponsoren für die Wiederrichtung des Fortuna-Portals, dem stadtseitigen Zugang zum einstigen Schloßhof, gewonnen hat. Dieses von der Glücksgöttin bekrönte Tor wurde nach der preußischen Königskrönung 1701 errichtet, um die Rang- und Machterhöhung Brandenburg-Preußens sichtbar zu dokumentieren. Am 1. September soll die Grundsteinlegung sein. Diese Potsdamer Entschlußfreude wird ihrerseits die Berliner Entscheidungsprozesse beschleunigen.

Die säuberlichen Frontlinien zwischen "linken" Schloßgegnern und "rechten" Schloßfans sind dahin. Den Gegnern gehen die Argumente aus: Der krude Gegensatz zwischen reaktionärer, neudeutscher Großmannssucht einerseits, die sich angeblich in den Berlin-Potsdamer Schloßplänen manifestiert, und der Bonner Bescheidenheit und demokratischen Transparenz andererseits, die es vor einer auftrumpfenden "Berliner Republik" zu bewahren gilt, läßt sich allein schon nach den Enthüllungen über den Bonner Spendensumpf der CDU kaum mehr überzeugend aufrecht erhalten. Auch der Vorwurf, der Wunsch nach dem Wiederaufbau der Schlösser sei ein Symptom der Unsicherheit und der Furcht vor der Moderne, erweist sich in der Praxis als absurd.

Das Potsdamer Vorhaben zum Beispiel, die zukünftige Verkehrsführung solle dem Ziel "einer Wiedergewinnung des Gesamtkunstwerkes" des Stadtzentrums nachgeordnet werden, ist im autoversessenen Deutschland fast schon revolutionär. Und in Berlin geht die wachsende Zustimmung der Bevölkerung für ein alt-neues Stadtschloß mit einem großen Wohlwollen für die neuen Bauten am Potsdamer Platz und in der Friedrichstraße einher. 1998 fanden immerhin 45 Prozent der Befragten diese Gebäude "gut", inzwischen dürfte der Anteil noch höher sein. Die Berliner und ihre Besucher haben sich diese neuen Stadtquartiere längst erobert, zuletzt beim Internationalen Filmfestival. Sie haben akzepiert, daß Asymmetrie und gläserne Härte zum modernen Leben gehören und sich berechtigterweise ihren architektonischen Ausdruck suchen. Dieser gereifte Realitätssinn führt umgekehrt zur Erkenntnis, daß die Sony- und Daimler-Chrysler-Bauten nicht die ganze Lebensrealität widerspiegeln. Zu ihr gehören auch das Bedürfnis nach Vergegenwärtigung, nach anschaulicher Präsenz von kulturellen und geschichtlichen Tiefendimensionen, nach einer gelassenen ästhetischen Selbstvergewisserung und, auch das, der Wunsch nach Harmonie.

Mit einem auf den ersten Blick skurrilen Vorschlag hat sich der Regisseur und konservative Kulturkritiker Hans Jürgen Syberberg zu Wort gemeldet: Er fürchtet, der Berliner Schloßneubau könnte mit geistig-kultureller Beliebigkeit angefüllt werden, und möchte ihn zu einem virtuellen, gleichsam in der Luft gebauten Preußen machen. Durch mulitmediale Simulation sollen seine verlorenenen Provinzen, seine Ideen und Vermächtnisse jenseits und unbeschwert von Realitäten, als Utopie, wiedererstehen. Diese Idee liegt ganz auf der Linie von Syberbergs Schriften, Filmen, Theater- und Installationsprojekten.

Ein sachlicher Einwand gegen seinen Vorschlag wäre, daß er sich thematisch mit dem Zentrum gegen Vertreibung, das der Bund der Vertriebenen plant, überschneidet. Weit schwerer aber wiegt, daß Syberberg die spirituelle Bedeutung Preußens weit überschätzt. Auch wenn die alberne, unhistorische Preußenphobie mittlerweile überwunden ist und kaum jemand noch ernsthaft bestreitet, daß bestimmte Werte und Überlieferungen, die gemeinhin als "preußisch" etikettiert werden, für ein funktionierendes Gemeinwesen unverzichtbar sind, würde dieser gewaltsame Rekurs auf eine preußische Staats- und Kulturutopie dermaßen aus der Zeit fallen, daß er bestenfalls Gleichgültigkeit und Unverständnis auslösen würde.

Andererseits, so ein neues Schloß hätte viele Wohnungen, warum nicht auch eine dafür? Unvergeßlich ist Syberbergs Multi-Media-Installation "Cave of Memory" von 1997, in der er die architektonische, politische, geschichtliche und kulturelle Topographie der Berliner Wilhelmstraße abschritt und mit sakraler Wucht eine Art Walhalla deutscher Verluste entwarf. Warum also soll nicht Edith Clever in Syberbergs "Ein Traum – was sonst?" über eine Leinwand flimmern, als Fürstin Bismarck, die 1945 auf ihrem hinterpommerschen Gut Varzin den russischen Einmarsch und das eigene Ende erwartet, dabei "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" mit einer Intensität rezitierend, die einem kalte Schauer über den Rücken jagt?

Natürlich haben die Wiederaufbau-Pläne auch einen politischen, genauer: nationalpolitischen Aspekt, denn die Schlösser waren bis 1914 selbstverständlich Symbole und Machtzentren von Preußen und Reich. Wenn sogar die Grünen jetzt innerlich etwas annehmen, was sie vor noch gar nicht so langer Zeit als "finsterste deutsche Traditionen" abqualifiziert haben, steckt dahinter ihre nüchterne Einsicht, daß man nicht in der Regierung sitzen und gleichzeitig die nationale Selbstzerknirschung ins Uferlose perpetuieren kann. Ob nun ein deutscher Louvre, ein virtuelles Preußen oder ein zentraler Ort des Bürgerdiskurses entsteht – schon mit der entkrampften Diskussion darüber stellt Deutschland sich ein Reifezeugnis aus.


 
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