© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Eines der letzten Solidarprinzipien
Rente: Nicht nur die demographische Entwicklung hat zum Loch in der Rentenkasse beigetragen
Ekkehard Schultz

Schon seit Jahren klagen Politiker aller Parteien regelmäßig über die angespannte Lage der Rentenkassen. Wichtige Verweise auf die Ursachen entbehren meist nicht der Hinweise auf die demographische Situation mit dem bekannten Phänomen der Überalterung des deutschen Volkes und der Entnahme sogenannter "versicherungsfremder Leistungen" aus dem gemeinsamen "Rententopf". Doch daneben gibt es auch zahlreiche Gründe für die bekannte Situation der Kassen, die sich aus Struktur, Arbeitsweise und Aufgaben der Rentenversicherung und ihrer Träger ergeben. Diese spielen in der öffentlichen Diskussion meist ein Schattendasein.

In Deutschland gibt es keinen alleinigen Rentenversicherungsträger. Die wichtigsten sind die Bundesanstalt für Angestellte (BfA) und die Landesversicherungsanstalten (LVAen) für Arbeiter. Daneben gibt es immer noch kleinere Rentenkassen für bestimmte Berufsverbände, wie die Bundesknappschaft oder die Bahnversicherung.

Da seit geraumer Zeit durch den wirtschaftlichen Strukturwandel die Zahl der klassischen Arbeiterarbeitsverhältnisse stark gesunken ist, läßt sich seit Jahren eine deutliche Schwächung der LVAen gergenüber der BfA registrieren. Innerhalb der LVAen ist derzeit eine Diskussion über die Zusammenlegung von Versicherungsanstalten in vollem Gange, um eine effektivere Arbeit zu ermöglichen. Auf der anderen Seite versuchen die LVAen ihre Stellung gegenüber der eher zentralistisch organisierten BfA mit ihrer lokalen Verankerung zu begründen, die den Ansprüchen der Versicherten besser entgegen käme. In den letzten Debatten zwischen den LVAen ist erkennbar, daß die bisherige Struktur (mindestens eine Anstalt pro Bundesland) auf Dauer nicht aufrecht erhalten werden kann, zudem auch der Druck von der BfA, die langfristig an einem Zusammenschluß unter ihrer Führung interessiert ist, stetig zunimmt. Doch bislang verhinderte die Sorge um Arbeitsplätze insbesondere in strukturschwachen Regionen und die Interessen der Führungsspitzen, die an möglichst "guten" Positionen ihrer Führungskräfte nach Fusionen interssiert sind, einen Durchbruch in dieser Frage.

Ein Irrtum vieler Versicherter besteht darin, die Rentenversicherungsträger nur als Verwaltungs-, Berechnungs- und Zahlungsorgan für Bezüge nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben anzusehen. Die Rentenversicherungsträger sind jedoch nicht nur ausschließlich mit Rentenfragen beschäftigt. Ein wichtiges weiteres Tätigkeitsfeld liegt in der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. So unterstützen die BfA und die LVAen Einrichtungen und Projekte, die zur Rückgliederung von Versicherten in den Arbeitsprozeß beitragen können. Daneben leisten sie selbst Zahlungen für Versicherte, die Maßnahmen der Rehabilitation in Anspruch nehmen. Diese Befugnisse sind im SGB geregelt.

Für die Versicherten liegt die wichtigste Frage natürlich in der Höhe der zu erwartenden Ruhestandsbezüge. Hier kursiert oft ein Mythos, der auch heute noch häufig in der Tagespublizistik auftaucht. Dieser besagt, daß sich die Rentenhöhe aus einem Prozentsatz "x" vom letzten Nettogehalt errechnet. Tatsächlich setzt sich diese jedoch aus dem Faktor der Beitragsjahre, der persönlichen Lohn- bzw. Gehaltshöhe im Vergleich zum Durchschnitt aller Arbeitsnehmerlöhne bzw. -gehälter und dem sogenannten Rentenwert zusammen, der in jedem Jahr an die Einkommensentwicklung angepaßt wird. Dieser Rentenwert beträgt laut dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) ab 1. Juli 48,58 Mark für das Tarifgebiet West bzw. 42,26 Mark für Mitteldeutschland. Nach 45 Beitragsjahren, von denen immer noch standardmäßig ausgegangen wird, hätte der Versicherte mit einem Durchschnittsverdienst so eine Rente von rund 2.200 bzw.1.900 Mark zu erwarten.

Neben Beitragszeiten werden auch Zeiten der Ausbildung und der Kindererziehung berücksichtigt. Allerdings gab es hier in den letzten Jahren deutliche Einschnitte. So werden statt fünf derzeit noch maximal drei Ausbildungsjahre nach der Vollendung des 17. Lebensjahres angerechnet. Daneben werden Renten von Aussiedlern pauschal berechnet, da diese oft trotz Versicherung keine oder nicht ausreichende Zahlungen durch den Auszugsstaat erwarten können. Nach vergleichbarem Prinzip wurden auch nach 1990 die Renten von mitteldeutschen Versicherten behandelt. Hier konnte allerdings adäquat zu den Westrenten eine Berechnung der Einkommensjahre und der Anrechnungshöhe am DDR-Niveau erfolgen, während die Auszahlungen nach den bisherigen westdeutschen Grundsätzen erfolgte.

Doch die derzeitige Modellrente von 2.200 bzw.1.900 Mark wird für die Generation von späten Berufseinsteigern, Langzeiturlaubern, Selbstverwirklichern und zeitweiligen Arbeitslosen immer mehr zu einer wenig wahrscheinlichen Größe. Schon in zwei Jahrzehnten werden Versicherte mit weniger als 35 Beitragsjahren einen erheblichen Teil der Rentner ausmachen. Doch mit solchen geringen Faktoren wird der gewohnte Lebensstandard noch weniger zu halten sein, als bei der jetzigen, immer noch mehrheitlich spargewohnten Rentnergeneration. Doch auch hier ist zu befürchten, daß die ungewollten Effekte eher zu politischen, als zu ökonomischen Maßnahmen verleiten.

Grundsätzlich ist das deutsche Rentenversicherungssystem ebenso wie die Krankenversicherung beitragsorientiert. Als staatliche Institutionen dürfen die Rentenversicherungsträger keinen Gewinn erwirtschaften. Andererseits müßten die Kassen mit den eingenommenen Beiträgen auskommen. Bei verminderten Einnahmen, z.B. bei schnell steigenden Arbeitslosenzahlen oder bei sinkenden Durchschnittslöhnen, müßte daher theoretisch auch der Betrag der Rentenauszahlungen sinken. Dies ist freilich politisch höchst unerwünscht und so stellt sich die reale Situation so dar, daß die Renten-, wie auch die Krankenversicherung immer mehr auf staatliche Zuschüsse angewiesen ist. So fließen Steuergelder in ein System, welches primär seine Ausgaben aus den eingenommenen Beiträgen erwirtschaften müßte.

Es ist kein Geheimnis, daß die staatliche Rente nie langfristig als alleiniger Pfeiler der Altersvorsorge geplant war. Das Rentenversicherungssystem der Bundesrepublik sollte nach dem Willen der verantwortlichen Politiker auf drei Säulen beruhen: der staatlich abgesicherten Rente, der Betriebsrente und der privaten Vermögensbildung. Doch eine allgemeine Stärkung der privaten Vorsorge hat nicht nur mit der großen Differenzierung in der Entlohnung, der unterschiedlichen Tarifsysteme Ost und West, sondern auch mit den gewaltigen Unterschieden in der Vermögensbildung zu kämpfen. Auch die zweite Säule büßte bereits mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit ihre gesamtgesellschaftliche Komponente ein. Nach der Vereinigung verlor sie weiter an Bedeutung, da sich bis auf wenige Ausnahmen bei Filialen von Großbetrieben im Gebiet der neuen Bundesländer aus leicht nachvollziehbaren Gründen keine Basis für Betriebsversorgung findet.

Eine Ausnahme stellt die Zusatzversorgung von Beamten im öffentlichen Dienst dar, deren Aufbau vor wenigen Jahren begann. Trotzdem sprechen die Zahlen für sich: Momentan erhalten in Mitteldeutschland weniger als zehn Prozent der Versicherten eine betriebliche Altersversorgung, während in den alten Bundesländern zumindest noch fast jeder zweite männliche Versicherte solche Ansprüche hat. Eine Rentenreform sollte daher nicht nur ihr Augenmerk auf eine bessere private Vorsorge, sondern auch auf die Stärkung der zweiten Säule legen.

Insgesamt betrachtet basiert das deutsche Rentenrecht nicht nur auf dem System individueller Verantwortlichkeit, sondern auch stark auf Solidarprinzipien. Eine individualistisch geprägte Gesellschaft muß sich fragen, wieviele Opfer sie für ein solches Prinzip zu erbringen bereit ist.


 
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