© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Kolumne
Amüsement
von Klaus Motschmann

Zu den wenigen, allerdings sehr festen Grundsätzen unserer Spaßgesellschaft gehört das individuelle "Streben nach Glück". Nach einem groben Mißverständnis demokratischer Rechte und Pflichten soll dem Menschen demzufolge alles Spaß machen: der Schulbesuch und das Universitätsstudium, die Ausbildung und die Politik, Wehr- und Zivildienst, der Gottesdienst (als Verkündigung des E-fun-geliums) und vor allem die Medien mit ihrem ständig wachsenden Infotainment. Sogar der Strafvollzug für Jugendliche, wenn er denn tatsächlich unumgänglich ist, soll Spaß machen, zum Beispiel durch Erlebnis-Strafvollzug in der Karibik. Lehrer, Professoren, Politiker, Pfarrer, Publizisten, Journalisten und sonstige (v)ideologische Sinnvermittler geraten auf diese Weise mehr und mehr in die Rolle von "Spaßmachern", die ganzjährige Karnevalsstimmung verbreiten. Sie äußert sich sinnfällig in ganzjährigen spektakulären Massendemonstrationen in unseren Großstädten mit hunderttausenden Teilnehmern: man denke nur an den Christopher-Street-Day, den Karneval der Nationen, die Love Parade oder an die inzwischen regelmäßigen Inline-Skater-Demonstrationen auf großen Hauptstraßen.

Die ersehnten Dauerwirkungen für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Orientierung lassen allerdings auf sich warten. Die Gründe dafür hat der amerikanische Kommunikationssoziologe Neil Postman Mitte der achtziger Jahre in seinem vielbeachteten Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" dargestellt: "An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung tritt das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge davon ist ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft. In ihm steckt eine unmißverständliche Bedrohung: er macht unmündig oder hält in Unmündigkeit. Und er tastet das gesellschaftliche Fundament der Demokratie an. Wir amüsieren uns zu Tode."

Um gezielten Mißverständnissen zu begegnen, sei daran erinnert, daß in zunehmendem Maße Kritik von islamischer Seite an dieser Verabsolutierung individualistischer Moral und Rechtsauffassungen zu vernehmen ist, weil sie dem Werte-Kanon des Koran widersprechen. Möglicherweise setzt demnächst eine Säkularisierung des Islam ein. Vorläufig ist eine stärkere Rückbesinnung auf den Islam zu beobachten, wenn man nur mit offenen Augen durch die Straßen geht und die Zunahme der Tschadors registriert. Es ist ein deutliches Indiz für den Willen zur Bewahrung der eigenen Identität und der (verständlichen) Abgrenzung zur Spaßgesellschaft.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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