© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/00 23. Juni 2000

 
Politik wird verkauft
Parteien: Die Lager lösen sich auf, das Marketing bestimmt die Inhalte
Michael Oelmann

Der Kampf um die "dritte politische Kraft" ist eingeläutet. Doch so offen, wie zur Zeit am strategischen Wechsel von rotgrün nach sozialliberal gebastelt wird, ging es weder 1968 noch 1982 zu. Das hat seinen Grund: Stammwählerschaften gehen verloren; statt einem Freifahrtsschein für politische Entscheidungen gewährt der Bürger dem seine Gunst, der sich à jour am interessantesten präsentiert. Inhalte weichen dem angloamerikanisch vorexerzierten Modell des Image; politische Inhalte werden austauschbar. Verblüfft steht der Bürger in der opiaten Bilderflut schmissiger Parteitage. Frei nach Nina Hagen: "Alles so schön bunt hier."

Den Wandel von Politik zur Promotion offenbarte anläßlich des FDP-Parteitages in Nürnberg einer am besten, der sich mit "pfiffigen Ideen" gut auskennt: Jürgen W. Möllemann. Dessen Credo für die strategische Ausrichtung der Liberalen zum Wahlkampf 2002 lautet wörtlich: "Die Zielmarke heißt 18". Eine Prozentzahl als substrale Reinform politischer Kommunikation – das hat etwas stringentes an sich. Zumal sich Person und politische Aussage endlich auf einem einzigen Foto darstellen lassen. Parteivorsitzender Gerhardt (zerpflückte ein Sonnenblumen-Modell) und Generalsekretär Westerwelle (mit Erste-Hilfe-Koffer für grüne Politikfolgen) wollten da bei ihren Reden in Sachen Pfiffigkeit in nichts nachstehen. Selbst Parteitagsdelegierte murmelten da von "Büttenreden"; das Wort von einer "Karnevalssitzung" machte die Runde.

Zum Aufrücken der FDP in die Schlagzeilen und Leitartikel gehört freilich auch das Instrument der Personaldebatte, die den Liberalen in Wahrheit zur Zeit mehr als gelegen kommt, wie jeder Partei, von der keiner es zugeben will. Denn "Politik wird von Personen gemacht". Dumm nur, wenn "Personen" im klassischen Sinne nicht da sind.

So legt sich die FDP derweil inhaltlich zu, was taktisch geeignet erscheint, auf dem Weg zur "Volkspartei" partielles Wählerreservoir zu okkupieren: Mit Bürgerrechtsthemen bei den Grünen, mit der Entdeckung des Sozialen bei den Sozis und mit Wirtschaftsthemen bei den Christdemokraten. Ach ja: und Möllemann trägt jetzt auch Rollkragen, wie Haider. Ohne mit der Wimper zu zucken resümiert Westerwelle in Nürnberg stolz, der "Zeitgeist ist mit uns".

Wie schnell jedoch der Zeitgeist politisches Leichtdenken verwehen kann, zeigt das Schicksal der Grünen. Denen nämlich gehen ihre einstigen plakativen Politik-Marken im praktischen Regierungsgeschäft verloren, siehe "Atomkonsens" mit Ausstieg im Jahre 3014 oder so. Was "praktisch ein Witz ist", wie der ehemalige Umweltminister Töpfer anläßlich der Restlaufzeit feststellt, ist es theoretisch – also für das Selbstverständnis der grünen Partei – erst recht. Ähnliche Ernüchterung zeitigten die zur Querfinanzierung der Renten mißbrauchte Ökosteuer, die unter grüner Regierungsbeteiligung beschlossenen Einsätze der Bundeswehr oder die mit dem de facto verpufften Doppelpaß-Modell proklamierte multikulturelle Gesellschaft. Die Aufrufe von Grünen-Politikern, das "alte Lebensgefühl" der Grünen wiederzuentdecken (so der designierte Parteichef Fritz Kuhn: "Wir müssen wieder frech und aufmüpfig sein") verstärkt nur noch die Erkenntnis, daß der Fall der Grünen in Wahrheit unaufhaltsam ist. Denn so oder so: Die einer wirklichen politischen Substanz vorgeschobenen temporären Programmpunkte hinterlassen ein politisches Vakuum, ob sie durchgesetzt oder verworfen sind.

Ähnlich erging es der Kohlschen CDU, die in der "Idee" der europäischen Einigung ebenfalls ein für eine Partei pseudohaften Sinn vorgeschoben hat. Selbst die Wiedervereinigung durfte nur aus dem Europa-Gedanken Helmut Kohls zum zeitweiligen Polit-Programm deduziert werden. Ehedem auf Sand gebaut, weil schließlich kein europäisches Volk existiert – wie selbst Außenminister Fischer feststellt –, ist die Verpuffung dieser Leitidee der wirkliche Grund für das Vakuum der CDU, nicht der Spendenskandal, nicht der Personalwechsel.

Es freut sich über die plötzliche Fülle von potentiellen Koalitionspartnern nach dem FDP-Erfolg in NRW freilich einer, der die politische Show in Deutschland praktisch erfunden hat: Kanzler Schröder. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kohl, der noch wesenhaft in einer bäuerlich-katholischen, vom Mißraten eigenständiger deutscher Politik geprägten Politikauffassung verwurzelt war, brilliert Schröder als politischer Verpackungskünstler. Zugute kommt ihm dabei eine ebenfalls sinnentleerte sozialdemokratische Partei, die mit ein bißchen Kindergelderhöhung und Vermögenssteueranhebung dahin folgt, wo auch immer Wahlen gewonnen werden. Immerhin ist Schröder dabei so professionell, daß er "Erfolge" um jeden Preis zu erzielen weiß, wohlwissend, daß ein Ergebnis an sich mehr wert ist als seine tatsächliche Qualität. Derart kompromißbegabt laviert er durch Atom und Rente, durch Steuerreform und Bürgerschaftsrecht, daß er jetzt sogar von der Welt am Sonntag als "souverän" gefeiert wird.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 und dem Wegfall des Ost-West-Konflikts scheint sich nun auch die Links-Rechts-Polarisierung aufzulösen. Die vom Antikommunismus zehrende CDU sucht nun händeringend nach einer neuen Verortung und mit ihr das gesamte bürgerliche Lager. Die Parole "Freiheit statt Sozialismus", eine zutiefst politische CDU-Parole des Bundestagswahlkampfes von 1976, wäre heute kaum vorstellbar.

Auch wenn die Lage des politischen Weltbürgerkrieges durch den Zusammenbruch des Eisernen Vorhanges fortgefallen ist und damit die Brisanz des Links-Rechts-Gegensatzes fortgefallen ist – die Gegensätze zwischen politischen Lagern existieren fort: Das Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und Individualismus, Gemeinschaft und Egoismus, Bindung und Freiheit besteht fort.

Wenn notwendige politische Auseinandersetzungen ersetzt werden durch Image-Schnickschnack und Marketing-Tricks, dann ist auch das eine politische Entscheidung: nämlich ein Rückzug aus der Sphäre des Politischen. Man überläßt das Feld denjenigen, deren Kräfte stärker sind. Wer entscheidet über den Ernstfall in der deutschen Politik? In der Außenpolitik, in der Frage des Einsazes der Bundeswehr, in der Frage der Einwanderung, in der Frage der Währungsstabilität, in der Frage des Fortbestandes des Nationalstaates Deutschland?

Auf der Strecke bleibt, was ein (wie immer ungewolltes) Bonmot Helmut Kohls einst so ausdrückte: "Wichtig ist, was hinten rauskommt." Die politische Landschaft in Deutschland ist in Bewegung geraten. Fraglich ist, wohin. Wenn sie nur mal nicht auf der Stelle tanzt.


 
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