© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Die Schrecken der Globalisierung
von Holger Schleip

Globalisierung stärkt Starke und schwächt Schwache Globalisierungsgewinner ist, wer am schnellsten und gezieltesten auf Marktveränderungen irgendwo in der Welt reagieren kann. Am besten können dies gewiefte Kapitaleigner – sie können ihr Geld und damit auch Arbeitsplätze mit einem Mausklick dorthin transferieren, wo gerade die größten Gewinne zu erzielen sind. Und sie setzen damit die Sachzwänge, an denen Politik sich zu orientieren hat.

Schwerer tun sich arbeitende Menschen – dem Arbeitsplatz um die halbe Welt nachzureisen, ist nicht jedermans Sache. Jung, gesund, fremdsprachenkundig und ohne Anhang, mehr die Konten als die Heimat liebend – so lassen die Chancen der Globalisierung sich ergreifen. An einem "schlechten Standort" lebend (besonders schlecht: Schwarzafrika!), Kinder und einen pflegebedürftigen Schwiegervater im Haus, mehr Herzens- als Intellektbildung – so sehen relative Globalisierungsverlierer aus.

Zu den absoluten Globalisierungsverlierern zählt alles, womit auf dem übermächtig werdenden Markt gehandelt wird, ohne daß es selbst handeln kann. So insbesondere alle nichtmenschlichen Lebewesen. Die Welt zweizuteilen in einerseits Menschen, die (formal) gleiche Recht haben, und andererseits Waren bzw. Sachen, die keine Rechte haben – diese Schablone ist Grundlage der Marktwirtschaft und des politischen Liberalismus. Gleiche oder keine Rechte haben, "gleich sein oder nicht sein, das ist hier die Frage" – so könnte man frei nach Shakespeare diese Rechtsphilosophie beschreiben, die durch die Globalisierung mit brutaler Konsequenz zur Weltherrschaft gelangt.

Globalisierung bewirkt Sozialabbau

Wegen der für die Globalisierung kennzeichnenden scharfen weltweiten Konkurrenz sehen die Unternehmen sich gezwungen, den für sie günstigsten Standort auszusuchen. Globalisierung bewirkt, daß die Rentabilität des Standortes zum Beispiel einer Industrieanlage sich nur noch wenig nach der Herkunft der Arbeiter, der Rohstoffe und der Konsumenten richtet, sondern hauptsächlich danach, wo industriefreundliche Rahmenbedingungen in Form von wenig Sozialabgaben, wenig Rechten für Arbeitnehmer, wenig Steuern und dergleichen herrschen. Da Länder ein wirtschaftliches Interesse an Unternehmen haben, wird so aus der Konkurrenz der Unternehmen eine Konkurrenz der Standorte.

In dem Maße, in dem die Nationen von Trägern ihrer jeweils eigenen Volkswirtschaft zu miteinander konkurrierenden Standort-Anbietern werden, sehen sie sich gezwungen, durch Abbau ihrer Sozialsysteme konkurrenzfähig zu bleiben, und setzen so eine Abwärts-Spirale der Sozialsysteme in Gang.

Globalisierung baut Umwelt- und Tierschutzbestimmungen ab

Begründung analog zu (2) - Umweltauflagen spielen besonders bei Industriebetrieben eine Rolle für die Standort-Konkurrenz, Tierschutzauflagen zum Beispiel bei Mastbetrieben oder Tierversuchslaboratorien. Jeder Staat "muß" auch unnötige Umweltzerstörung und Tierquälerei zulassen, weil andernfalls "die Produktion ins Ausland verlagert" wird.

Verhindern ließen sich solche "Abwärts-Spiralen" nur durch ein gemeinsames Vorgehen aller Standort-Anbieter. Nach bisherigen Erfahrungen ist ein weltweiter Konsens noch am ehesten über Sozial-Mindesstandards zu erzielen, über Umweltschutz-Mindesstandards weniger und über Tierschutz-Mindeststandards noch viel weniger.

Globalisierung zerstört Natur

Eine Zunahme des internationalen und insbesondere auch des interkontinentalen Transportes von Menschen und Waren erfordert mehr Energieumsatz mit entsprechendem Schadstoffausstoß und führt zu mehr Bodenversiegelung (Autobahnen, Flughäfen, Hotels, Zweitwohnungen...) Auch die Häufigkeit der "Ölpest" steigt mit dem Energieumsatz.

Globalisierung soll das weltweite Wirtschaftswachstum mehren – mehr Wirtschaftswachstum beinhaltet auch eher mehr ökologische Belastungen, als daß es diese mindert.

Globalisierung beschleunigt Seuchenausbreitung

Mit der großräumigen Mobilität von Menschen und Waren wächst die Ausbreitungsgeschwindigkeit ansteckender Krankheiten. Glücklicherweise sind die Aids-Viren sehr empfindlich und die BSE-Prionen meist unwirksam – für künftige rasch globalisierende Krankheitserreger braucht dies aber nicht zu gelten.

Globalisierung bedeutet mehr Tiertransporte

Globalisierung bedeutet großräumigere, weniger durch staatliche Grenzen gebremste Mobilität. Während Menschen, die auf dem globalen Arbeitsmarkt von einem Land in ein anderes migrieren, Menschenrechte beanspruchen können und dadurch auch im Falle illegaler Einwanderung vor offensichtlichen Mißhandlungen einigermaßen geschützt sind, gelten alle nicht zu unserer Spezies zählenden Lebewesen als Ware und sind somit rechtlos.

Die Transportkosten für Wege etwa vom Mastland zum Schlachtland und die Transportverluste (=unterwegs verendetes Vieh) gehen zwar in die betriebswirtschaftliche Kalkulation ein, spielen aber gegenüber den Produktionskosten und dem Verkaufserlös (ggf. zuzüglich der Exportsubventionen) nur eine untergeordnete Rolle.

Globalisierung verschleiert Gesundheitsrisiken

Durch rasche Ausbreitung neuer, möglicherweise gesundheitsschädlicher Waren und Produktionsmethoden wird es schwer, neue Ursachen von Gesundheitsschäden zu erkennen.

Nehmen wir beispielsweise an, eine neue genmanipulierte Erdnußsorte führe bei jedem hundertsten Konsumenten nach einigen Jahren zu bestimmten Krankheitssymptomen. Bei einem Anbau dieser Erdnußsorte in zunächst nur einem Land und einem Vorherrschen regionaler Märkte ließe sich die Rolle dieser Erdnußsorte als Krankheitsursache recht leicht erkennen. Bei Vorherrschen globaler Märkte, die Saatgut und Schokoriegel weltweit verstreuen, gäbe es zwar mehr Kranke, aber die Erdnußsorte gliche epidemiologisch der "Stecknadel im Heuhaufen".

Globalisierung erschwert Verantwortungsbewußtsein

Wir können verantwortungsvoll handeln nur insoweit, als wir die Folgen unseres Handelns überblicken. Je größer und arbeitsteiliger der Wirtschaftsraum, desto mehr entgleiten die Auswirkungen unserer Entscheidungen unserem Blickfeld. Schon jetzt gilt: Wer sein Erspartes in einen Investmentfonds steckt, weiß nicht, wer damit wo was auf welche Weise produziert. Und wer einen Mars-Riegel kauft, kann nur mutmaßen, wie die Kühe leben, von denen das Milchpulver stammt – und das Internet hilft da auch nicht weiter.

Globalisierung läßt die Folgen des eigenen Handelns, insbesondere des eigenen Konsumverhaltens, so weit wie irgend möglich hinter dem eigenen Erfahrungshorizont verschwinden.

Globalisierung baut Demokratie ab

Sozial- und Umweltdumping nützt zwar den Kapitaleignern, wird aber von großen Bevölkerungsteilen gerade auch der mächtigen Staaten als unerwünscht angesehen. Deswegen führt die Globalisierung indirekt zu Bestrebungen, durch internationale Angleichungen bzw. Gleichschaltungen (= "Harmonisierungen") die Folgen des globalisierungsbedingten Konkurrenzkampfes abzumildern. Die wirtschaftliche Globalisierung schafft so "Sachzwänge" in Richtung politischer und rechtlicher Globalisierung, Endstation dieser Entwicklung wäre eine Weltregierung.

Eine demokratische Mitwirkung von Bürgern an politschen Entscheidungen ist aber um so schwieriger, je größer der geographische Bereich ist, innerhalb dessen vor dem Gesetz alle gleich sein sollen. Gilt es, ein Gesetz zu formulieren, das den Verhältnissen in Stuttgart, Detroit, Schanghai und Johannesburg gleichermaßen gerecht werden soll, dann mag der Vorstandsvorsitzende von Daimler-Chrysler sich in seinem Element fühlen, nicht jedoch der Mann auf der Stuttgarter (oder Johannesburger) Straße.

Globalisierung schafft Asyl ab

Asyl finden heißt, sich der Verfolgung im eigenen Land entziehen durch Unterschlupf in einem anderen Land mit anderem Rechtssystem. In einer "one world" mit "harmonisiertem" Strafrecht gibt es ein solches anderes Land aber nicht mehr.

Die Vorstellung, in einer globalisierten Welt brauche es auch kein Asyl mehr zu geben, weil in dieser Welt dann weltweit genau unsere Rechtsvorstellungen gelten würden, zeugt von maßloser Selbstüberschätzung und Naivität.

Globalisierung führt zur kulturellen Verarmung der Menschheit

Bereits jetzt hat der Austausch zwischen verschiedenen Kulturen ein Ausmaß erreicht derart, daß zwar der einzelne Mensch zwischen vielfältigen kulturellen Angeboten wählen kann, das Kulturgut der Menschheit aber an Vielfalt abnimmt durch weltweite Angleichung der Kulturgemeinschaften. Wobei derzeit die westliche Zivilisation, speziell der "American way of life", auf dem Vormarsch ist und andere Kulturen an die Wand drückt.

Globalisierung führt zur biologischen Verarmung der Menschheit

Die Spezies homo sapiens hat sich im Laufe von Jahrtausenden in verschiedene Rassen und Völker differenziert. Diese Vielfalt ist für die Anpassungsfähigkeit der Menschheit an künftige Herausforderungen möglicherweise sehr wichtig und in gewissem Sinne mit der Artenvielfalt der Tier- und Pflanzenwelt vergleichbar. Durch die globalisierungsbedingte Migration wird diese Vielfalt innerhalb weniger Generationen nivelliert – es gibt dann zwar noch eine Vielfalt biologisch unterschiedlicher Individuen, aber nicht mehr eine Vielfalt biologisch unterschiedlicher Lebensgemeinschaften. Zumal eine Abschaffung der Völker und mehr noch eine Abschaffung der Rassen als irreversibler Eingriff in die Gattung Mensch aufgefaßt werden muß, ist es unverantwortlich, Warnungen vor dieser Entwicklung aus ideologischen Gründen zu tabuisieren. Es sei denn, man meint, die Zeit der Gattung Mensch sei ohnehin abgelaufen.

Globalisierung minimiert gesellschaftliches Lernen

Weil Völker verschiedene Wege gegangen sind, konnten sie bisher voneinander lernen – zum Beispiel, daß Justiz auch ohne Folter und Wohlstand auch ohne Sklavenhaltung möglich ist. Oder daß weder Gewaltenteilung noch Religionsfreiheit in gesellschaftlichem Chaos endet. Oder daß marxistische Planwirtschaft weniger effektiv funktioniert als Marktwirtschaft. "Versuch und Irrtum" – nach diesem Evolutionsprinzip entwickelt sich auch die Menschheit, und je mehr Völker neue Ideen entwickeln und in ihrem Land verwirklichen können, desto mehr kann die Menschheit lernen.

In einer globalisierten Welt, in der die souveränen Völker durch eine sich als "Wertegemeinschaft" verstehende "Völkergemeinschaft" ersetzt wurden, hätte es keine Französische und keine Russische Revolution geben können sondern allenfalls eine Weltrevolution.

In einer solchen künftigen Welt wird es nicht mehr möglich sein, daß ein neues Werte- und Rechtssystem von einem Volk eingeführt wird und dann – je nachdem, ob es sich bewährt oder nicht – von anderen Völkern übernommen wird oder nicht.

In einer solchen Welt wird noch ein Lernen durch Vergleich mit der Vergangenheit möglich sein, aber nicht mehr ein Lernen durch Vergleich verschiedener bestehender Systeme.

Globalisierung ist der Weg des größtmöglichen Risikos

Dies läßt sich mit dem Bild vom "gemeinsamen Boot" veranschaulichen: Globalisierung bedeutet, daß die bisherigen Völker aus ihren bisherigen eigenen Booten (=Volkswirtschaften; oder auch Sozialsysteme, nationale Regierungen, Strafrechts-Systeme, Demokratiemodelle, Religionen usw.) umsteigen in ein neues gemeinsames Boot (=Weltwirtschaft; bzw. weltweites Sozialsystem, Weltregierung usw.). Das neue Boot ist nicht nur größer, es fährt auch schneller und zumindest für den internationalen Geldadel komfortabler in die Zukunft. Aber wenn es mit einem Eisberg kollidiert, werden auch die "Wir sitzen alle in einem Boot" predigenden Bordgeistlichen einsehen, daß ein zweites Boot am Horizont wichtiger wäre als ein swimming-pool – wie in der business-class so auch in der economy-class.

Globalisierung setzt die Zukunft der Menschheit aufs Spiel und zwar dergestalt, daß dabei "alles auf eine Karte gesetzt" wird.

 

Dr. Holger Schleip, Jahrgang 1949, ist Augenarzt und engagiert sich politisch in der Ökologie- und Tierrechtsbewegung.


 
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